Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)
genommen.
Kann das massenhafte Verhungern überhaupt verhindert werden? Rein quantitativ betrachtet zweifellos. Weltweit werden genügend Nahrungsmittel produziert, damit keiner eines Hungertodes sterben müsste. Allein die Nahrungsmittel, die in Europa und Nordamerika weggeworfen werden, würden ausreichen, um alle Hungernden auf der Welt zu ernähren – es bliebe sogar etwas über. Die meisten Krankheiten, an denen Kinder in der Dritten Welt sterben, könnten mit einem finanziellen Aufwand von einigen Dollar pro Kind vermieden beziehungsweise geheilt werden. Jährlich sterben 2,2 Millionen Menschen, überwiegend Säuglinge und Kleinkinder, an Durchfallerkrankungen, Folge kontaminierten Trinkwassers, da etwa die Hälfte der Weltbevölkerung über keine angemessene Wasserversorgung verfügt. Weder Hunger noch Verelendung müssten sein. Es handelt sich nicht um ein Naturgesetz, sondern um Massenmord durch Unterlassung. Die Hungersnöte in China, Britisch-Indien und der Sowjetunion sowie in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten Osteuropas gelten unter Historikern mittlerweile als Genozide, unabhängig davon, ob sie in den erfolgten Ausmaßen intendiert waren, worüber noch gestritten wird. Sie hätten verhindert werden können, wurden aber als notwendiges Übel in Kauf genommen, um die Interessen der »gesunden« oder »progressiven« Gemeinschaft zu verteidigen.
Von Milliardären, Elchjägern und anderen Malthusianern
In Kreisen der wirtschaftlichen Eliten wird neuerdings ein erstaunlicher posthumanitärer Cocktail aus neomalthusianischen und fundamentalistisch sozialdarwinistischen Positionen gemixt. Schon 1996 erklärte CNN-Gründer Ted Turner der Zeitschrift Audubon : »Eine Bevölkerung von weltweit 250 bis 300 Millionen Menschen, also ein Rückgang um etwa 95 Prozent, wäre ideal.« Im Alter nicht nur weiser, sondern auch nachsichtiger geworden, formulierte er 2008 beim World Affairs Council of Philadelphia das visionäre Ziel, die Weltbevölkerung auf zwei Milliarden zu verringern. Sein Freund John Malone, der ihn 2011 als größter privater Landeigentümer der Vereinigten Staaten ablöste, raunt sibyllinisch: »Ich bin eher geneigt zuzugestehen, dass der Mensch nicht gänzlich verschwinden wird.« Zumindest nicht bis auf den letzten Großgrundbesitzer, denn einige wenige werden übrig bleiben, Milliardäre samt Bediensteten sowie Elchjäger und Biodiversitätsexperten – Ted Turner lebt diese »Utopie« selbst vor. Er hat seine Latifundien in Montana, Nebraska, Oklahoma und New Mexiko quasi entmenscht, im Sinne einer ökologischen Rückwandlung (so wie einst Bernhard Grzimek darauf beharrte, dass die ostafrikanischen Nationalparks frei von dort lebenden Einheimischen sein sollten), und selbst alte Gewohnheitsrechte der Indianer außer Kraft gesetzt. Zugang zu seinen Privatparadiesen haben nur gutbetuchte Waidmänner, die fünfstellige Beträge für den Abschuss eines Elchs bezahlen können. »Eingewanderte« Fische hingegen müssen weichen, weswegen Ted Turner seit 2004 mehr als eine halbe Million Dollar investiert hat, um einige fremde Forellenarten im Cherry Creek mit Rotenon zu vergiften, damit die einheimische Westslope cutthroat trout ungefährdet ausgesetzt werden kann. Trotz heftiger Proteste von Anwohnern und Anglern entschied sowohl die Regierung als auch das oberste Gericht des Bundesstaates Montana zu seinen Gunsten, sodass bis 2011 entlang eines hundert Kilometer langen Flussabschnitts systematisch entfernt wurde, was Gott dort nicht vorgesehen hatte. Doch Ted Turner beschäftigt sich nicht nur mit kleinen Fischen. Seit den 1970er-Jahren kauft er Bisonherden auf – heute ist er der größte Bisonfarmer der Welt –, natürlich mit der hehren Absicht, fremde Kühe zu vertreiben, ein löblicher Aufbruch in die Vergangenheit, der 2002 von 400 angereisten indianischen Führern aus dem ganzen Kontinent (von Guatemala bis Alaska) gewürdigt wurde, indem sie Turner den Ehrennamen Buffalo Bull Chief verliehen. Die haarigen Büffel finanzieren übrigens einen Teil des Turner-Imperiums. Als Bisonburger landen sie in den Filialen von Ted’s Montana Grill auf dem Teller jener, die keinen anderen Zugang zur Natur haben.
Der noch reichere Bill Gates propagiert eine weniger drastische Reduktion der Menschenzahl. In einer Rede aus dem Jahre 2010 schätzt er, dass durch »neue Impfstoffe und bessere Gesundheitsversorgung, vor allem im Bereich der Fortpflanzung« die Weltbevölkerung, die in absehbarer
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