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Der Überraschungsmann

Titel: Der Überraschungsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Operetten auf dem Flügel vorzuspielen. Dann durfte sich keiner rühren, geschweige denn räuspern oder die Augen verdrehen und »langweilig« murmeln.
    Ganz schlimm wurde es, wenn sie dazu auch noch SANG ! Leonore war siebenundsiebzig, was für sie noch lange kein Grund war, ein wenig leiser zu treten. Nun ja. Im Moment hatte sie den Mund voll. Da war keine unmittelbare Gefahr im Verzug.
    » KUCKT DOCH MAAAAL !« Paulinchen zerrte an meinem Ärmel.
    Unauffällig spähten wir wieder aus dem Panoramafenster. Die Heinzelmännchen eilten fleißig wie die Ameisen zwischen Möbelwagen und Haus hin und her.
    »Hoffentlich sind das keine Spießer!«, brummte Volkers Sohn Nathan missmutig. Der zwanzigjährige lange Lulatsch hing über dem Tisch wie ein Bär, den man mit Stockschlägen gezwungen hat, mit Messer und Gabel zu essen. Also wenn Wiebke DEN zu guten Tischmanieren erzogen hatte, war ich die Königin von England! (Nein. Falscher Vergleich. Für die hielt sich ja schon Leonore.)
    »Von wegen keine laute Musik machen, kein Motorrad frisieren und sonntags nicht Rasenmähen!«
    »Als ob DU jemals Rasen mähen würdest«, sagte sein jüngerer Bruder Emil lachend.
    Der Bursche lümmelte wie immer in seiner geblümten Boss-Unterhose, die er uns eiskalt als Sportshorts verkaufte, in seinem Rippenunterhemd, aber mit Strickmütze am Tisch herum. Toll erzogen. Wirklich, Wiebke, klasse Tischmanieren! Aber ich mochte Emil. Der Kerl hatte so was Herzerfrischendes, Entwaffnendes im Gegensatz zu seinem arroganten Bruder Nathan, der die ganze Welt wissen ließ, wie blöd sie war.
    »Ach, halt doch die Klappe!« Nathan schaufelte sein Rührei in sich hinein. »Du mähst ihn genauso wenig!«
    »Ich mähe ihn öfter als du!«
    »ICH mähe ihn!«, trumpfte Charlotte auf. »Ihr faulen Säcke mäht ja nie!«
    »Mäh, mäh!«, machte Pauline kleinkindhaft. Dabei tropfte Milch aus dem zahnspangenbewehrten Mäulchen.
    »Sie ist neun!«, sagte Leonore und funkelte mich aus ihren stahlgrauen Augen an. » NEUN .«
    Ich fing Leonores starren Blick auf. Es folgte ein so unan genehmes Schweigen, dass ich den Tisch am liebsten verlassen hätte.
    »Na und? Und ich bin achtzehn«, lachte Emil mit vollem Mund. » ACHTZEHN , OMAAAAA .«
    »Kinder, bitte!«, sagte ich nachsichtig und wischte an meinem jüngeren Töchterchen herum. »Wir wollen doch unser Sonntagsfrühstück in Ruhe genießen.« Das war wieder mal einer der Momente, in denen ich mir vorkam wie eine dieser weichgespülten Vorzeigemuttis aus dem Werbefernsehen. Die bringt entweder diplomatisch geschickt Toffifee ins Spiel oder verzieht sich – weil sie es sich wert ist – klammheimlich mit einem Kinderschokoriegel in die Hängematte. Ein ganz kleiner fieser innerer Schweinehund sehnte sich nach meinem früheren Leben als Reiseleiterin in fernen Landen zurück. Ach, früher, seufz! Da nervten nur die Pauschaltouristen. Und die fuhren irgendwann wieder nach Hause. Dies hier war mein zweites Leben, mein Zuhause. Und daraus konnte ich nicht wieder in die Ferne flüchten. Außerdem hatte ich es ja so gewollt: Volker war mein Traummann. Ich wollte ihn, und ich hatte ihn. Der ganze Familienballast war im Hauptgewinn mit inbegriffen.
    Volker, mein Mr Perfect, spähte immer noch besorgt zu dem neuen kleinen Nachbarhaus hinüber.
    »Jetzt haben wir jahrelang ohne Nachbarn gelebt. Ich hatte mich schon daran gewöhnt, dass wir hier niemandem Rechenschaft schuldig sind …«
    »Aber das sind wir doch auch so nicht!« Neugierig schaute ich über die Hecke. »Die scheinen jung zu sein! Sehen doch nett aus!«
    »Jetzt ist es vorbei mit eurer Ruhe«, machte Leonore meinen schwachen Versuch zunichte, Volker bei Laune zu halten. »Dabei musst du doch arbeiten und deine FAMILIE ernähren.« Wieder dieser stechende Blick in meine Richtung. Ja, ich war schon ein dicker Parasit in Leonores Leben. In ihren Augen war es nur meine Schuld, dass »die Familie zerbrochen« war. Dass »die arme Wiebke nun jeden Abend in ihren Kamillentee weinen muss«. Und dass Volker jetzt »noch drei weitere Mäuler zu stopfen hat«.
    Als ob ICH meine Familie NICHT ernähren würde! Immerhin arbeitete ich noch als Stadtführerin. Natürlich verdiente ich nicht so viel wie Volker, der eine eigene Internistenpraxis hatte. Aber MEIN Maul musste er nicht stopfen. Wie gern hätte ich stattdessen Leonores Maul gestopft! Ihre fiesen Verbalattacken prallten nicht IMMER an mir ab, sosehr ich mir auch selbst stoische Gelassenheit verschrieben

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