Der übersehene Mann: Roman
gegenüberliegenden Stuhl. »Alle Zeit der Welt. Seine Lordschaft sind etwas unterbeschäftigt, wie dir wahrscheinlichauch nicht entgangen sein wird.« Sie deutete mit dem Kopf zur Tür.
Lydia sah ihre Freundin anerkennend an. Sie trug ein korallen farbiges Twinset und einen passenden Baumwollrock. Die Farbe stand ihr, sie unterstrich ihren honigfarbenen Bob und gesunden Teint. Nur die an einer Kette hängende Goldrandbrille schmälerte den mädchenhaften Eindruck. Sie hatte etwas Enthusiastisches an sich, worum Lydia sie beneidete. Sie kam Lydia wie ein Kind vor, das gerade ein Geburtstagsgeschenk öffnete, ein Kind, das beim Versteckspiel immer die anderen suchte, das auf der Suche nach Neuem war, während Lydia in ihrem Versteck ausharrte und nicht gefunden werden wollte.
In der Highschool waren sie enge Freundinnen gewesen, doch danach waren sie getrennte Wege gegangen: Lydia hatte sich in Belfast zur Lehrerin ausbilden lassen und Daphne hatte am Ort einen Sekretariatskurs an einer Fachschule belegt und damit ein Jahr später eine Stellung bei der Bücherei bekommen, bei der sie geblieben war.
Ihre Freundschaft gründete auf gegenseitigen Respekt und Verständnis für die Umstände und Wünsche der anderen. Sie teilten ihren Kummer und zelebrierten ihre Erfolge mit echtem Einfühlungsvermögen und großem Wohlwollen.
Daphne war auch unverheiratet. Aber sie hatte einen Verlobten, einen Farmer namens John, mit dem sie schon mindestens zehn Jahre zusammen war. John weigerte sich zu heiraten, solange seine Mutter lebte, und es gab keine Anzeichen dafür, dass sich daran bald etwas ändern würde. Mit dreiundsiebzig war seine Mutter so rüstig und aktiv wie andere mit Mitte dreißig. Sie hatte nicht die Absicht, ihren einzigen Sohn und ihr Heim – sein Erbe – mit einer anderen Frau zu teilen, selbst wenn diese andere Frau so liebenswürdig und gutmütig wie Daphne war.
Der Gedanke an eine Heirat war einfach unvorstellbar.
»Erinnerst du dich an Heather Price aus der Schule?«, fragte Lydia. »Ziemlich groß, brünett und unscheinbar. Wir haben unsere Ausbildung zusammen gemacht.«
»Meinst du die Tochter von Ettie und Herbie?«
»Ja, genau. Du errätst nicht, was ich heute Morgen im Briefkasten hatte.«
Sie nahm die Einladung aus dem Umschlag und reichte sie ihr herüber. »Sie heiratet.«
»Wirklich? Wie nett!« Daphne setzte die Brille auf und sah die Karte an.
»Wahrscheinlich bekommst du auch eine, Daphne.«
»Hoffentlich! Es ist schon so lange her, dass ich mir mal einen netten Tag gemacht habe. Außerdem hab ich dann eine Entschuldigung, mir was Nettes zu kaufen.« Gedankenverloren setzte sie die Brille wieder ab. »Ich muss John gleich warnen, dass er seine Mutter frühzeitig bearbeitet. Sie kann sehr schwierig sein, weißt du ...« Sie sah von der Karte hoch. »Oh, Lydia, vergib mir, ich hab nur an mich gedacht. Das ist doch eine gute Nachricht. Freust du dich denn gar nicht darauf?«
»Das ist es ja gerade, Daphne. Ich ertrage nicht eine einzige Hochzeit mehr mit meiner Mutter. Ich muss mir eine andere Begleitung suchen. Sonst gehe ich nicht hin.« Sie lehnte sich betrübt zurück.
»Du meinst einen Mann.«
»Ja, natürlich meine ich einen Mann! Eine dieser fremden Kreaturen, die mein Vater missbilligt hat und die meine Mutter für anstößig befindet.« Sie seufzte und sah zum Fenster hinaus. »Oh, wie mich mein Leben deprimiert, Daphne. All meine Schulfreundinnen sind entweder verheiratet oder verlobt, nur ich bin immer noch allein. Ich fühle mich irgendwie verschmäht.« Genau in dem Moment funkelte der Verlobungsring an Daphnes Finger in der Sonne auf. Lydia entging dieser Zufall nicht. »Ich muss jemanden finden, der mich begleitet. Und wie soll ich in acht Wochen etwas schaffen, was mir in den vergangenen zwanzig Jahren nicht gelungen ist?«
»Das ist gar nicht so schwer, Lydia. Die Antwort wartet draußen auf dem großen Schreibtisch.« Sie stand auf und ging zur Tür.
Lydia sah erschrocken auf. »Wirklich, Daphne! Sean ist noch ein Kind, um Himmels willen!«
»Bitte vertrau mir, ich bin gleich wieder da.«
Sie staunte über Daphne, die auf alle Fragen eine Antwort zu haben schien. Und das Beruhigende daran war, dass sie meistens recht hatte. Lydia fand, dass sie viel zu gut für ihren monotonen Job war, wo sie nur Bücher stempelte und in die Regale stellte und die immergleichen Leute begrüßte. Sie hätte Hotelmanagerin werden sollen oder Krankenhausleiterin; so eine Stellung
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