Der übersehene Mann: Roman
ließen.
Aber vielleicht war jetzt die richtige Zeit gekommen. Nach Onkel Micks Tod war ein Vakuum entstanden, das wieder gefüllt werden wollte. Rose und Paddy, ja selbst Dr. Brewster dachten so.
Aber was für eine Frau könnte mich wollen? Jamie versuchte, diese vertrackte Frage aufzulösen, als er von der Stadt den vertrauten Weg über die Hügel und durch die Täler nach Hause radelte. Er war über den Lenker von Onkel Micks uraltem Rad gebeugt, kaute auf einem Bassets-Fruchtbonbon und sah auf die Straße, die unter seinen quietschenden Rädern dahinflog.
Vielleicht mochte sie ja auch Countrymusik, dachte er – die Clancy Brothers und Jim Reeves waren seine Helden. Vielleicht mochte sie sein Akkordeon und würde ihn gerne spielen hören. Manchmal nahm er es am Samstagabend mit zu Slope, um Declan Colt & The Silver Bullets abzulösen, wenn sie mal eine Pause brauchten oder zur Toilette mussten. Oben auf Duncans frei gewordenem Hocker spielte er dann »The Fields of Athenry« oder »The Boston Burglar«. Und wenn keiner da war, den man nicht kannte und der Protestant sein konnte, riskierte er ein paar Takte »Roddy McCorley” oder »Sean South of Garryowen”, wobei diese beiden republikanischen Lieder sowieso dieselbe Melodie hatten.
Hoffentlich hätte sie nichts gegen die Farm, gegen die Geräusche der Tiere, ihren Geruch und all das. Aber sie müsste ja auch nicht mithelfen, wenn sie nicht wollte, fand Jamie. Rose McFadden tat draußen auch nicht viel, sie kümmerte sich aber um den Garten, denn Kochen war ihr Hauptinteresse. Vor allem sollte diese Frau also eine gute Köchin sein. Eine, die seine Pfannengerichte fertig auf dem Tisch stehen hätte, wenn er nach getaner Arbeit wieder reinkam. Und wäre es nicht großartig, wenn sie ab und an seine Hemden und die Unterwäsche waschen würde und er sie nicht mehr runter zu Rose bringen müsste, was ihm immer so peinlich war?
Jamie lächelte, als er auf sein Haus zuraste. Er war froh, dass er jetzt eine bessere Vorstellung davon hatte, wonach er eigentlich suchte.
Im Hof stieg er von seinem knarzenden Drahtesel, schob ihn an den aufstiebenden, braun gefleckten Hennen vorbei und weckte den Hund aus seinem Schlummer an der Schuppentür. Die beiden Ayrshire-Kühe auf der nahen Weide kamen schwerfällig auf das Gatter zu und glotzten ihm hinterher.
Im Juni hatte es noch nicht geregnet und so war der Boden mit einem verrückten Muster von sich überlagernden Fahrrad- und Treckerspuren überzogen. Hier und da lagen Maschinenteile herum – Innereien einer Ackerfräse, Glieder eines Heuwenders, der Korpus einer Radhacke – für immer in der Erde steckengeblieben.
Der Hof lag links vorm Haus, von kreisförmig angelegten Schuppen und Scheunen geschützt. Die altersschwachen Gebäude hielten sich wacker in ihren uralten Fundamenten aufrecht. Vor vielen Jahrzehnten waren sie aus den schmalen Profiten der vier Hektar großen Farm und von den schwieligen Händen von Micks Ururgroßvater errichtet worden. Mick hatte sich klugerweise nicht näher über diesen schillernden Vorfahren geäußert, aber Jamie waren die Geschichten dennoch zu Ohren gekommen.
Man erzählte sich, dass Turlough McCloone ein Verrückter mit einer Leidenschaft für Grog und lose Weiber gewesen war. Während seiner wollüstigen und gewalttätigen Phase hatte er seinen Samen verstreut, die Frauen zwar alle wieder verlassen, aber eine Reihe Kinder in die Welt gesetzt. Irgendwann war er dann doch noch sesshaft geworden. Die Dunty butt Farm konnte ein Zeichen dafür sein, dass er vielleicht doch zu Verstand gekommen war. Leider hatte er nicht lange genug gelebt, um das auch unter Beweis zu stellen. Denn eines Tages kam ein alter Feind mit einem seidenen Hut vorbei und holte ihn mit einem fünfschüssigen Paterson-Colt aus dem Sattel seines gedrungenen Apfelschimmels. Mit einem Revolver, der bis zu diesem Tag als notorisch unzuverlässig gegolten hatte.
Als Onkel Mick zur Welt kam, war das feurige Blut seines zügellosen Vorfahren schon stark verdünnt. Vielleicht war noch ein Rinnsal Verrücktheit übrig, doch wenn Mick etwas Irres hatte, so hatte er es Jamie jedenfalls nie sehen lassen.
Jamie lehnte das Rad an die Giebelwand im Schatten, damit die Sonne dem Ledersattel nichts anhaben konnte. Aus der Satteltasche nahm er seine Einkäufe heraus: erst die Zeitung, dann ein Glas Zitronen marmelade,ein Johannisbeerbrot, eine Büchse Andrews Liver Salts sowie eine fettige weiße Tüte mit einer
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