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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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halben Meter von seinem Ankläger entfernt, aber er blickte weiter nach unten und war wieder kurz davor, in Tränen auszubrechen. Der Atem des Mannes stank nach saurer Milch und Fischköpfen; er spürte, wie der faulige Geruch über sein Gesicht strich. Wenn er den Blick hob, würde er gewiss ohnmächtig werden.
    »Hast du etwas zu deinen Gunsten zu sagen, Junge?«
    Er versuchte, den Kopf zu heben, aber das tat weh. Der sicherste Weg, sich vor brennenden Blicken zu ducken, war, den Kopf gesenkt zuhalten, das schützte auch vor Schlägen direkt ins Gesicht. Bis jetzt hatte ihm das Waisenhaus mit seinen gefliesten Fußböden, kiesbestreuten Höfen und grasigen Gärten ein wenig Sicherheit geboten, nicht aber der alte Teppich mit seinen verblassten Vögeln. Es stand immer schlecht um ihn, wenn er wieder einmal auf den Teppich herabstarrte.
    »Ich hatte Hunger, Sir«, platzte er zur Verteidigung heraus, hob schließlich doch sein tränenverschmiertes Gesicht und sah in die rotgeäderten Augen seines Peinigers. Er kannte die Züge des Mannes sehr genau, es waren die des schwarzen Mannes aus seinen Alpträumen.
    Die Nase war spitz und porös wie ein Steinkeil. Ein schiefer Mund mit grässlichen Zähnen – wie ein Schlitz in einem Getreidesack – war zu einem halben Grinsen verzogen. Bei dem blassen, klumpigen Fleisch musste er an die Haut auf seinem Haferschleim beim Frühstück denken. Es fiel von den Wangenknochen in schlaffen Falten auf den Hals des Mannes herab. Das weißlich gelbe Haar war überraschend üppig und mit Öl zurückgekämmt, sodass man die Spuren des Kamms erkennen konnte. Seine großen, schrumpeligen Ohren standen wie Blumenkohl vom Kopf ab.
    »Du leugnest nicht einmal, Sechsundachtzig?«
    »Nein, Sir.«
    Der Junge zitterte. Angst wühlte in seinen Eingeweiden. Der schwarze Rohrstock grinste ihn hinterhältig aus der Ecke an. Er betete, dass es wenigstens schnell vorbeigehen würde.
    Aber dann klopfte es laut und unheilverkündend an der Tür. Im Zimmer dröhnte das Klopfen nach. Der Junge hielt die Luft an.
    »Ja? Was ist los?« Bei den Worten klirrte das Silber in der Anrichte. Die Tür öffnete sich.
    »Direktor Keaney, können Sie bitte mitkommen? Es gab einen Vorfall im Hof. Schon wieder Zweiunddreißig.«
    Mutter Vincent stand empört in ihrer schwarzen Tracht in der Tür, das strenge, vom gestärkten Schleier gerahmte Gesicht unbewegt wie das der Pikdame. Sie sah zwischen Keaney und dem Jungen hin und her. Etwas Grausames bäumte sich zwischen den beiden auf, dann fiel es in sich zusammen.
    Keaney erhob sich.
    Die Frau hatte sein Spiel verdorben, sie hatte eine Karte aufgedeckt, die nicht für ihre Augen bestimmt war. Der Junge dankte Gott und der Direktor verfluchte ihn.
    »Ich bin sofort da, Mutter Oberin. In der Zwischenzeit bitte ich Sie, dafür Sorge zu tragen, dass der Junge den Boden des Speisesaals scheuert – an den nächsten fünf Abenden.«
    Mit voller Wucht schlug er dem Jungen die geballte Faust ins Gesicht. Der Junge krümmte sich. Blut schoss ihm aus der Nase. Keaney schubste ihn auf die Nonne zu.
    »Raus mit dir, du nutzloser Bettler!«
    Sechsundachtzig konnte nicht glauben, dass ihm die Grausamkeit des Rohrstocks erspart geblieben war. Zum Dank hätte er hundert Böden an hundert Abenden geschrubbt.

7
    Eine Woche nach seinem Arztbesuch kaufte sich Jamie den neuen Mid-Ulster Vindicator. Den von letzter Woche hatte er schon zum Anfeuern benutzt, da in der »Einsame Herzen«-Rubrik nur Kandidatinnen gewesen waren, die zu jung (fünfundzwanzig bis dreißig), zu erfahren (verwitwet oder getrennt), zu übereifrig (gewillt, jede Entfernung zurückzulegen) oder zu selbstgerecht (Christinnen, Abstinenzlerinnen oder Nichtraucherinnen) waren.
    Zum ersten Mal seit dem Tod seines Adoptivvaters war Jamie aufgeregt. Eine ganz neue Aussicht bot sich ihm. Das Leben ließ sich wieder ertragen, denn die Möglichkeit, jemanden kennenzulernen, gab ihm Auftrieb. Er sah ein Licht auf einem entfernten Hügel, das ihn anlockte.
    Er hatte keine besondere Vorstellung von der Frau, die er kennenlernen wollte. Sein ganzes Leben hatte er sich vom Spiel des Werbens und Heiratens ausgeschlossen gefühlt. Er war es nicht wert, eine Beziehung einzugehen, sie schien das natürliche Reservat aller anderen Männer zu sein. Die Ehe war etwas für Männer, die keine Angst hatten. Männer, die auf dem Hochseil des Lebens balancieren konnten und sich nicht von jedem Wackeln oder Zittern von ihrem Ziel abbringen

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