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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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hätte einfach viel besser zu ihrer praktischen, anpackenden Art gepasst. Aber was konnte sie damit gemeint haben, sie hätte die »Antwort«?
    Lydia brauchte sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen. Daphne warf ihr den Mid-Ulster Vindicator in den Schoß und drängte sie, die zweitletzte Seite aufzuschlagen.
    »Einsame Herzen?«, fragte Lydia ungläubig. »Das ist doch nicht dein Ernst, Daphne!«
    »Warum denn nicht? Ist mir erst vor ein paar Tagen aufgefallen. Da ist doch nichts Schlimmes dran. Du bist einsam und willst einen anderen Einsamen kennenlernen. Setz eine Anzeige rein und guck, was passiert. Was soll daran verkehrt sein? Du weißt nie, wen du kennenlernen könntest.«
    Lydia spielte mit der Idee. Daphne forderte sie heraus, sich zur Abwechslung mal etwas zu trauen. Und es war eine aufregende Vorstellung, diese neuen, ungeahnten Möglichkeiten zu erkunden. Trotzdem zögerte sie.
    »Aber ist das nicht irgendwie anrüchig? Und der normale Weg ist das doch auch nicht?«
    »Unsinn! Wenn du in einem Kaff wie Killoran lebst und schnelle Erfolge brauchst, dann musst du eben auch mal praktische Maßnahmen ergreifen. Außerdem hast du deinen Spaß dabei, und du kannst doch wirklich nicht wissen, wen du kennenlernst. Riskier doch mal was!«
    Es klopfte.
    »Kann ich jetzt Mittagspause machen?« Sean sah von Daphne zu Lydia, die beide kicherten.
    »Ja, natürlich.«
    »O Gott, ist es schon so spät? Mutters Haare! Ich muss sofort los.« Lydia winkte mit der Zeitung. »Kann ich die haben?«
    »Natürlich. Du weißt, diese anspruchslose Zeitung könnte für dich den Beginn eines neuen Lebens bedeuten.«
    Lydia lächelte. »Na, mal sehen, Daphne.«

6
    »Hierher, Sechsundachtzig.«
    Die Stimme – boshaft, dunkel und drohend – rollte wie Donnergrollen auf den Jungen zu. Er traute sich nicht aufzublicken, sondern hielt den Blick auf seine nackten, schmutzverkrusteten Füße gesenkt und schlurfte weiter voran. Er hörte, wie der Regen ans Stabkreuzfenster prasselte und das Feuer im Kamin knackte und zischelte. Bei dem gefürchteten Befehl spannte er die Bauchmuskeln gegen den Schlag an, der unweigerlich folgen musste.
    Er ging so langsam wie möglich über die verblassten Kolibris und Pfauen des Teppichs auf die Stimme zu.
    Er kannte das Zimmer gut, denn er war schon oft in diese muffigen vier Wände gezerrt worden. Die düstere Einrichtung war ihm vertraut: die dunkle, klauenfüßige Anrichte mit dem silbernen Service, das immer klirrte, wenn die Tür geschlossen wurde, das Velourssofa mit den gebrochenen Federn und den abgewetzten Armlehnen, der Farn in seinem kupfernen Übertopf.
    Doch besser als alles andere kannte er das Bett in der Ecke hinter den Samtvorhängen. Er hatte jede Delle und jede Wölbung der Matratze zu spüren bekommen, kannte jede Furche in der Chenille-Steppdecke und den atemraubenden Gestank der gestreiften Nackenrolle nach Schweiß und Haaren. So oft war sein Gesicht dort hineingedrückt worden.
    »Komm näher.«
    Die Stimme war etwas höher geworden, nur ein klein wenig – und der Junge wusste trotz seiner Unschuld, dass das zu diesem grausamen Erwachsenenspiel gehörte. Er war die in die Enge getriebene Maus, mit der die Katze eine Weile spielen würde. Langsam schob er den Fuß auf den Kopf des zweiten Pfaus. Er hatte nur noch anderthalb Vögel vor sich.
    »Ich höre, du bist wieder böse gewesen, Sechsundachtzig. Und das nach all dem, was die guten Schwestern in dieser Schule für dich getan haben.«
    Der Junge begann zu weinen. Der Pfau verschwamm und wirbelte in seinen Tränen herum. Er schluckte salzige Schluchzer herunter und hoffte, dass sein erbärmliches Aussehen etwas Mitleid erregte, vielleicht sogar einen der seltenen Strafaufschübe erreichen konnte. Er weinte herzzerreißend, er wollte seinen Schmerz zeigen, bis er keine Tränen mehr hatte, bis seine Kehle wund war. Aber nichts geschah, die Stimme blieb stumm. Der Raum vibrierte mit seinem Kummer, aber nur er selbst bemerkte es. Es war sinnlos, das wusste er.
    Nach einer Weile hörte er auf, wischte sich die Augen mit dem ausgeleierten Ärmel seines Pullovers und ergab sich in sein Schicksal. Er war schuldig. Auch wenn er Hunger gehabt hatte und die Steckrübe wirklich um ein Haar aus dem Sack gefallen wäre.
    »Eine Rübe, eine ganze Rübe, du gieriges Schwein!« Die Stimme hob sich bei den letzten beiden Worten und peitschte wie eine Welle um das Kind.
    »Komm her. Jetzt.«
    Er ging schnell zum letzten Pfau, weniger als einen

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