Der Umweg nach Santiago
Geschichte zu verlieren, weiß nicht, welches Land er bereist. Es ist eine Liebe fürs ganze Leben, das Staunen hört nie auf.
Die Kathedrale von Santiago de Compostela
Von der Reling des Schiffes aus sehe ich es über der Insel dunkel werden, auf der ich den Sommer verbracht habe. Die hereinbrechende Nacht legt sich über die Hügel, alles verdüstert sich, eine nach der anderen gehen die hohen Neonlampen an und bescheinen den Kai mit der toten weißen Glut, die zur mediterranen Nacht gehört wie der Mond. Ankunft und Abschied, schon jahrelang ziehe ich zwischen dem spanischen Festland und den Inseln hin und her. Die weißen Schiffe sind etwas größer geworden, doch das Ritual ist das gleiche geblieben. Der Kai voller weißer Matrosen, Abschiednehmender und Verlobter, das Deck voll abreisender Urlauber, Soldaten, Kinder, Großmütter. Die Gangway ist bereits an Bord gehievt, die Schiffssirene wird noch einmal einen langen Abschiedsschrei über den Hafen ertönen lassen, und die Stadt wird ihn als Echo zurückwerfen, den gleichen Schrei, nur schwächer. Zwischen Oben und Unten noch eine letzte Verbindung – Toilettenpapierrollen. Unten das Ende. Oben an der Reling die Rolle selbst, die langsam, während das Schiff sich vom Kai entfernt, abgerollt werden wird, bis auch die allerletzte Verbindung zu den Zurückbleibenden, die so lange es geht neben dem Schiff herlaufen, abreißt und die dünnen, durchsichtigen Papiergirlanden im schwarzen Wasser ertrinken.
Manche rufen noch etwas, Rufe wehen zurück, doch schon ist nicht mehr auszumachen, wer was ruft und was diese Botschaft bedeutet. Wir fahren aus dem langen, schmalen Hafen hinaus, vorbei am Leuchtturm, an der letzten Boje – und dann wird die Insel zum düsteren Schemen in dem Schemen, der die Nacht selber ist. Jetzt ist es unwiderruflich, wir gehören zum Schiff. Auf dem Achterdeck Gitarrenklänge und Händeklatschen, eswird gesungen, getrunken, die Deckpassagiere in ihren Holzliegestühlen bereiten sich auf eine lange Nacht vor, die Glocke zum Essen ertönt. Im altertümlichen Speisesaal eilen Kellner in weißen Fräcken unter dem ernsten Porträt des spanischen Königs hin und her. Im Gesellschaftsraum strahlt der Fernseher halb unsichtbare, schattenhafte Bilder von der wirklichen Welt aus, aber fast niemand schaut hin. Man schiebt den Schlaf noch hinaus, schlendert auf den Decks umher, trinkt, bis die Bars schließen. Dann verstummt auch der letzte rebellische Gesang, und nichts ist mehr zu hören außer den Wellen, die an die Schiffswand klatschen. Der einsame Passagier sucht seine Kabine auf und legt sich auf das kleine eiserne Bett. Nachts wacht er ein paarmal auf und schaut durch das Bullauge hinaus. Die weite Fläche des Wassers bewegt sich in einem langsamen, glänzenden Tanz, es wirkt geheimnisvoll und ein wenig gefährlich, so still und mächtig, wie sie da liegt mit nichts als dieser trägen, ziehenden Bewegung, unter der sich so viel verbirgt. Der weiße Chip, der Mond, taucht auf und taucht unter in den satinglänzenden Wellen, wollüstig und angsteinflößend zugleich. Der Passagier ist ein Stadtbewohner und weiß nicht, was er mit diesem großen, stillen Element anfangen soll, aus dem seine Welt jetzt auf einmal besteht. Er zieht den dürftigen kleinen Vorhang vor das runde Fenster und knipst eine Kinderlampe neben dem Bett an. Ein Schrank, ein Stuhl, ein Tisch. Eine Wasserkaraffe in einer Nickelhalterung an der eisernen Wand, darübergestülpt ein Glas. Ein Handtuch der Compañía Mediterránea, das er morgen ebenso wie das Glas mit der Flagge der Reederei mitnehmen wird. Er besitzt schon viele solcher Handtücher und Gläser, denn er hat bereits viele solcher Reisen gemacht.
Langsam überläßt er sich dem Wiegen des Schiffs, ein großer Muttertanz, und er weiß, wie es weitergehen wird. Im Laufe der Nacht wird er endlich einschlafen, dann wird das erste Licht durch den nutzlosen Vorhang fallen, er wird an Deck gehen zwischen den anderen Passagieren mit den unausgeschlafenen Gesichtern und die Stadt langsam näherrücken sehen – schöner, alssie ist, durch das erste Sonnenlicht, das dem Horror der Gastanks und des Smogs eine Wendung ins Helle, Goldene, Impressionistische geben wird, so daß es für einen Augenblick aussehen wird, als wiege sich da ein diesiges, goldenes Paradies und nicht der unbarmherzige Prellbock der industriellen Millionenstadt.
Ganz still gleitet das Schiff jetzt zwischen den steinernen Armen in den Hafen. Es ist
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