Der Umweg nach Santiago
fühlen. Und, noch schöner: Was auf der Michelin-Karte gelb ist, ist auf der Hallwag-Karte weiß. Für mich haben weiße Straßen etwas Verlockendes, als ob ich erst dann wirklich von allem weg bin, als ob das Land eigentlich nur mit großer Mühe kartiert worden ist.
Niemand hat diese Orte mit den seltsamen Namen je besucht. Wenn ich dort ankomme, stehen die Bewohner mit Brot und Wein an der Dorfgrenze. Während ich auf die Karte starre, lasse ich die spanischen Namen auf der Zunge zergehen ... La Almunia de Doña Godina, Alhama de Aragón, Sistema Ibérico, Laguna Negra de Urbión, wie eine Kette aus Wortjuwelen schlingen sich diese Dörfer, Pässe, Ebenen, Flüsse um den kurzen harten Klang Soria, jeder Name ist irgendwann einmal von irgend jemandem erdacht worden und ist nun ein Ding, das Menschen sich achtlos reichen: Ich fahre heute abend nach Soria, ich komme aus Soria.Es läßt sich nicht messen, was sich alles in Namen ballt, wieviel Tausende oder Millionen von Malen dieses eine Wort, das jetzt nur noch einen Ort bezeichnet, ausgesprochen und aufgeschrieben wurde, in welchen Formen es in Flurbüchern schlummert, auf Briefköpfen, Generalstabskarten herumlungert, in Briefen und Tagebüchern, Schriftstücken und Rechnungen auftaucht, den Mündern von Kindern, Nonnen, Mördern entfleucht: »Ich fahre heute abend nach Soria, ich komme aus Soria.« Es hat Macht, so ein Wort: Es wird sich später, unvorstellbar viel später von unvorstellbaren Mündern aussprechen lassen, die es heute noch nicht gibt. Und denk daran, nie bist du irgendwo nicht in einem Namen, nicht in einer Gegend mit einem Namen, nicht auf einem Berg mit einem Namen, in einem Ort mit einem Namen – stets hältst du dich in irgendeinem Wort auf, das sich andere – nie gesehen, längst vergessen – ausgedacht, irgendwann zum erstenmal aufgeschrieben haben. Wir befinden uns immer in Wörtern.
Und nicht nur in Wörtern, auch in der Geschichte. Der gegenwärtigen wie der von einst. Als ich in Tarazona halte, sehe ich in einer Kneipe die Vanguardia von vor zwei Tagen. In ihrem unablässigen Eifer, die spanische Demokratie zu vernichten, haben GRAPO oder ETA wieder einen General ermordet. Er ist das achtzigste Terroropfer in diesem Jahr. Dahinter steht der Gedanke, daß die Armee provoziert und getriezt werden müsse, bis sie die Macht ergreift, und dann könne der Krieg richtig beginnen. Auf der Titelseite sind fünf Fotos zu sehen. Das erste zeigt den ermordeten General – Brigadegeneral Don Enrique Briz Armengol, noch lebendig und von der Kamera in dem Augenblick geschluckt, als er eine neue Funktion erhält. Er steht dazu auf einem kleinen Podest mit spitz zulaufenden Pfählen, zwischen denen in Kniehöhe drei Ketten hängen. Die Farbe seiner Schärpe ist auf dem Foto nicht zu erkennen, aber ich weiß aus Erfahrung, daß sie violett ist. Sein Gruß wird durch die Tatsache betont, daß er weiße Handschuhe trägt, und eigentlich sieht er aus wie ein Schauspieler, der einen General spielt. Ein weißes, leicht maskenhaftesGesicht, schwarze Löcher einer Sonnenbrille, wenig Ritterorden, aber geputzte Schuhe, und absolut kein Grund, ihn totzuschießen. Auf dem leeren Hof, auf dem er, wie es scheint, eine für uns unsichtbare Parade abnimmt, ist noch ein Mann zu sehen, der im selben Augenblick salutiert und, da durch die Entfernung sein Gesicht nicht gut zu erkennen ist, aussieht wie der per fekte Doppelgänger. Die beiden Soldaten, die das Auto fuhren, in dem er ermordet wurde, haben keine weißen Handschuhe, keine Ritterorden, eher fröhliche, noch unbeschriebene spanische Jungengesichter. Neben ihren Köpfen sind kleine Kreuze, man hat sie offenbar aus einem Gruppenfoto herausvergrößert, auf dem es etwas zu lachen gab. Auf dem nächsten Foto sind nur ihre Barette zu sehen. Sie liegen zwischen den Glassplittern auf dem schwarzen, unangenehm glänzenden Kunststoff der Vordersitze. Die Türen des Autos sind geöffnet, bleiernes Tageslicht fällt herein. Dieses Foto schmeckt noch am meisten nach Tod. Auf dem letzten Bild kondoliert der Präsident der Generalitat – der mehr oder weniger unabhängigen katalanischen Regierung – der Witwe. Sie ist ziemlich dick und trägt ein Kleid mit changierendem Vasarélymuster. Der Präsident hält ihre große, kräftige Hand in der seinen und sagt etwas. Auf dem Foto ist noch eine Frau, aber ihr Gesicht kann ich nicht lesen – Trauer, Wut, Rachsucht, Schock: die Gesichter, die in Geschichtsbüchern immer
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