Der Umweg nach Santiago
Kirchenluft daraus geworden, ebenso unsichtbar wie die draußen, aber doch anders. Kirchenförmige Luft, die den Raum zwischen den massiven Säulen füllt und totenstill, wie etwas, das da ist und nicht da ist, bis zu den Kreuzrippen im rohen, aus großen Quadern gefügten Gewölbe reicht. Die Kirche ist leer, die riesigen Säulen ragen ohne Sockel geradeaus dem gepflasterten Boden auf, die Sonne wirft aus ihrer derzeitigen Position eine seltsame, statische Lichtpfütze durch das Rundfenster irgendwo rechts in der Kirche, ein wenig gespenstisch. Ich höre meine eigenen Schritte. Dieser Raum verformt nicht nur die Luft, sondern auch das Geräusch meiner Schritte – es werden die Schritte eines Menschen, der in einer Kirche umhergeht. Selbst wenn man von diesen Erfahrungen das abzieht, was man selbst nicht glaubt, bleibt immer noch das Unwägbare, das andere Menschen in diesem Raum glauben und vor allem geglaubt haben.
Vorstellungen von architektonischem Purismus, die sich doch als so stark erweisen, wenn jemand ein Bürogebäude neben ein Grachtenhaus setzen will, versagen in dieser Art von Räumen. Von außen ist dieses Gebäude romanisch, die Kreuzgewölbe sind gotisch, die Grablege Don Lupo Marcos ist ein Meisterwerk der Renaissance, die Tür zur Sakristei extrem exaltiertes Barock, aber das Auge revoltiert nicht. All diese närrischen Barockengel, die an den groben, ungleichen Steinen aus dem dreizehnten Jahrhundert wie wildwuchernder Efeu ausfächern, bilden den Durchgang zu einem Kapitelsaal im reinsten Zisterzienserstil: niedrig, hell und still. Weil niemand sonst da ist, probiere ich meine Stimme schnell mal aus, um zu hören, wie die Stimmen der Mönche klingen müssen – die kleine gregorianische Tonfolge, die ich von mir zu geben wage, schwirrt tremolierend zwischen den Wänden herum und kehrt dann über die Abtgräber im Boden unversehrt wieder zu mir zurück. In einer der Mauern befindet sich das Grab des Herrn von Agón, Don Lope Jimenes, aus dem dreizehnten Jahrhundert. Er liegt in der Wand, an der Wand, nicht auf dem Rücken, sondern auf der Seite, ohne daß diese merkwürdige Position etwas am Faltenwurf seines Gewandes veränderte. Das junge, fast feminine Gesicht ruht auf einem Kissen aus Stein, die Linke auf dem Herzen, die Rechte packt den Griff seines großen Schwertes. Zwei greifähnliche Tiere, von denen eines einen kleinen Menschenkopf zwischen den Raubvogelklauen hält, heben die Köpfe, die Schnäbel weit geöffnet, umeinen Laut von sich zu geben. Man sieht den Laut, hört ihn nicht, aber weil man ihn sieht, hört man ihn doch. Dieser Effekt stellt sich durch die Öffnung ihrer Schnäbel ein, wegen der Form der Höhlung sieht man den Laut, den sie hervorbringen, ein hohes, schreckliches Heulen. Irgend jemand muß einmal sehr traurig gewesen sein, als dieser Ritter starb. Er ist nicht weniger tot, als wir eines Tages sein werden, doch die Trauer um ihn waltet bereits siebenhundert Jahre am selben Ort, mit derselben in Stein gehauenen Intensität.
Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist, wenn der kleine Raum dieses Kapitelsaals von Mönchen bevölkert ist, aber das Wesen des claustrum (lateinisch für: abgeschlossener Raum) besteht ja gerade darin, daß man nicht zugegen sein darf: Ich darf hier nur zu Zeiten herumgehen, zu denen sie sich woanders aufhalten. Überall sind Schilder zu sehen mit »claustrum« , zur Bezeichnung der Bereiche, die sie nicht verlassen dürfen und ich nicht betreten darf. Um dabei zu sein, müßte ich das Gelübde ablegen, für immer hier zu bleiben, und das geht vielleicht doch etwas weit.
Es gibt ein Gemälde von Fouquet aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das den heiligen Bernhard von Clairvaux, den Mitbegründer des Zisterzienserordens, in genau so einem Kapitelsaal predigend zeigt, in dem ich jetzt stehe. Helles Licht fällt durch die romanischen Fenster in den strengen Raum, Bernhard steht vor einem einfachen Pult, die Mönche sitzen entlang der Wand auf Steinbänken aufgereiht. Das Erstaunliche ist nicht, daß diese Gebäude bis jetzt stehen, sondern daß eine Lebensweise, die im zwölften Jahrhundert ihre mehr oder weniger endgültige Form erhielt, noch heute intakt ist. Und die Anfänge liegen sogar viel weiter zurück. Bereits vor Christus gab es im Nahen Osten Menschen, die von der Welt abgesondert lebten, Eremiten, Einsiedler, Anachoreten. Das blieb so während der ersten Jahrhunderte des Christentums. Es ist eine Fähigkeit der Seele, eine
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