Der Umweg nach Santiago
Möglichkeit für Menschen, sich von der »Welt« abzusondern, die es auch in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten gab und noch gibt.
Im Westen geht die Klostertradition auf den heiligen Antonius zurück, der zwischen dem dritten und vierten Jahrhundert Klostergemeinschaften in der ägyptischen Wüste vorstand, und auf die christlichen Platoniker in Alexandrien. An diesem Punkt der Geschichte (ich stehe noch immer in meinem kühlen spanischen Kapitelsaal) ist es erforderlich, die Augen für einen Moment zu schließen und die heutigen christlichen Parteien zu vergessen: Zu der Zeit, von der ich hier spreche, sind die Christen eine feurige, verfolgte Sekte, eine Minderheit. Es ist die Zeit des (oft gesuchten) Märtyrertums, der leidenschaftlichen Bekehrungen, eine Zeit, nach der moderne Christen sich gelegentlich zurücksehnen, weil damals alles viel klarer und einfacher war oder schien. Erst im vierten Jahrhundert wird das Christentum zur »offiziellen« Religion. Menschen der verschiedensten Rassen strömen herbei, es wird nicht nur Mode, sondern auch zweckmäßig, Christ zu sein, Verfall und Laxheit setzen ein, und als Reaktion darauf bilden sich kleine, glühende Gemeinschaften, in denen der inzwischen schon nicht mehr ganz neue Glaube so rein wie möglich gelebt werden konnte. Johannes Cassianus, geboren in der Nähe des Schwarzen Meers, aufgezogen in Syrien und Palästina, ins Kloster eingetreten in Ägypten – all dies ist undenkbar, wenn man sich nicht die damals noch bestehende Struktur des Römischen Reichs vor Augen hält –, gründet eine der ersten Klostergemeinschaften in der Provence, genau in dem Augenblick, als die germanischen Stämme von Norden her ins Römische Reich einfallen. Was er in Syrien und Ägypten gelernt hat, übermittelt er jetzt dem Westen – seine Schriften über das kontemplative Leben werden im Mittelalter in jedem Kloster gelesen, Ideen, die in der strengen Verlassenheit der Wüste entstanden waren, fanden ihren Weg in andere, fruchtbarere Gegenden, und von diesem Wüstenartigen hat sich bis heute etwas erhalten – vielleicht nirgendwo heftiger als in Spanien, das nun einmal nie richtig zu Europa gehört hat.
Basilius, Hieronymus, Augustinus von Hippo – sie alle haben ihren Platz in der Geschichte des Klosterwesens, doch der Mann,der im Prinzip für alle nachfolgenden Jahrhunderte die Regeln festlegte, war Benedikt von Nursia. Das Feuer, das in diesem Leben loderte, ist für einen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts kaum mehr vorstellbar, aber die Geschichte spricht für sich selbst. Benedikt (um 480 - 547) zog als junger Mann in die Bergregion der Abruzzen, wo er in der Nähe der Ruinen von Neros Palast eine Höhle fand, in der er jahrelang lebte, ohne daß irgend jemand, ausgenommen ein Mönch aus einem benachbarten Kloster namens Robertus, der ihm heimlich eine Mönchskutte und Essen gab, davon wußte. Nachdem das Geheimnis später doch herausgekommen war, baten die Mönche des Klosters ihn, ihr Abt zu werden, aber seine Lebensregeln erwiesen sich für sie als zu streng, und sie versuchten, ihn zu vergiften. Er ging wieder in seine Höhle zurück, doch von allen Seiten kamen Schüler zu ihm, und er gründete zwölf Klostergemeinschaften zu je zwölf Mönchen. Seine eigene Abtei war die von Monte Cassino, die heute noch existiert. Benedikt lehnte das extreme, fanatische Asketentum ab, wie es im Nahen Osten praktiziert wurde, er hielt nichts davon, seine Mönche über die Grenze des Möglichen zu treiben. Was übrigblieb, war streng genug: eine Gemeinschaft, in der man nach seinem Eintritt für alle Zeiten blieb, dem Abt absoluten Gehorsam schuldete, sehr früh schlafen ging und sehr früh aufstand und zu allen möglichen Zeiten sowohl bei Tag als auch bei Nacht aufgerufen wurde, sich am Opus divinum, dem »göttlichen Werk«, dem Zelebrieren der Messe und dem Singen der Stundengebete zu beteiligen. Der Rest des Tages wurde mit Arbeiten und Lesen verbracht. Fasten und Enthaltsamkeit waren ein wesentlicher Bestandteil des Klosterlebens: Die späteren Trappisten aßen (essen) nie Fleisch oder Fisch. Gesprochen wurde genausowenig, nur wenn es unbedingt nötig war, oder während der Liturgie, der Predigt oder im Kapitel. Für den täglichen Umgang gab es eine rudimentäre Gebärdensprache. Einen »richtigen« Orden gründete Benedikt nicht, das ist eine spätere Erfindung. Zu seiner Zeit waren die Klöster völlig autonome Gemeinschaften, über die der Abt regierte wie ein
Weitere Kostenlose Bücher