Der unausweichliche Tag - Roman
D as Mädchen heißt Mélodie.
Es ist lange her, Mélodie war noch gar nicht geboren, da hatte ihre hübsche Mutter sich als Komponistin versucht.
Mélodie ist zehn Jahre alt, und sie will ein Sandwich essen. Sie klappt die beiden Hälften auseinander und starrt auf den feuchten rosa Schinken dazwischen und auf den ekligen graugrünen Schimmer auf dem Schinken. Überall um sie herum, im vertrockneten Gras und in den verdorrten Bäumen, machen Grillen und Grashüpfer jenes Geräusch, das sie nicht mit ihrer Stimme (sie haben keine Stimme, hat man Mélodie erklärt), sondern mit ihren Körpern machen, ein Körperteil schwingt dabei gegen einen anderen. Hier ist alles lebendig, flattert und schwirrt von einer Stelle zur anderen, denkt Mélodie, und sie hat Angst, dass plötzlich eines dieser Insekten auf ihrem Sandwich landet oder auf ihrer Wade oder sich mit den Beinen in ihren Haaren verheddert.
Mélodies Haar ist schwarz und seidig. Während sie auf den glitschigen Schinken schaut, spürt sie, wie Schweiß aus ihrer Kopfhaut kommt. Schweiß ist eine kalte Hand, die einen streicheln will, denkt sie. Schweiß ist etwas Seltsames in einem drin, das von einer Stelle zur anderen kriechen will …
Mélodie legt das Sandwich in das staubige Gras. Sie weiß, im Nu werden Ameisen da sein, um das Brot herumwimmeln und es wegzutragen versuchen. In Paris, wo sie früher wohnte, gab es keine Ameisen, aber hier, wo ihre neue Heimat ist, gibt es mehr Ameisen, als man überhaupt zählen kann. Sie kommen aus der Erde und gehen wieder dahin zurück. Man findet sie, wenn man gräbt: eine kompakte Masse, schwarz und rot. Der Spaten würde da mitten hindurchstechen. Wahrscheinlich müsste man noch nicht einmal sehr tief graben.
Mélodie hebt den Kopf und blickt hoch zu den Blättern der Eiche.
Diese Blätter färben sich schon gelb, als wäre es längst Herbst. Der Wind, der Mistral heißt, bläst durch den Baum, und die Sonne wandert immer weiter und durchlöchert den Schatten, und immer ist hier etwas in Bewegung, nie kehrt Ruhe ein.
»Mélodie«, sagt eine Stimme. »Ist alles in Ordnung? Magst du dein Sandwich nicht?«
Mélodie dreht sich um zu Mademoiselle Jeanne Viala, ihrer Lehrerin, die wenige Schritte entfernt auf einer Decke im Gras sitzt. Einige der kleineren Kinder hocken in ihrer Nähe, und alle futtern brav ihre Baguettes.
»Ich habe keinen Hunger«, sagt Mélodie.
»Wir hatten einen langen Vormittag«, sagt Mademoiselle Viala. »Versuch wenigstens ein paar Bissen.«
Mélodie schüttelt den Kopf. Manchmal ist es schwierig zu sprechen. Manchmal ist man wie ein Insekt, das keine Stimme hat, sondern Körperteile aneinanderreiben muss. Und um einen herum bläst immerzu der Mistral, und immerzu fallen Herbstblätter, obwohl es doch Hochsommer ist.
»Komm und setz dich zu uns«, sagt Mademoiselle Viala. »Wir trinken jetzt alle etwas Wasser.«
Die Lehrerin befiehlt einem der Jungen, Jo-Jo (er gehört zu denen, die Mélodie ärgern und hänseln und ihren schicken Pariser Akzent nachäffen), ihr die Picknicktasche zu reichen. Mélodie steht auf und lässt ihr Sandwich im Gras liegen, und Mademoiselle Viala zeigt mit der Hand neben sich, und Mélodie setzt sich dort neben die Lehrerin, die sie eigentlich mag, die aber heute Morgen Mélodie verraten hat … ja, verraten, … weil sie Mélodie gezwungen hat, Dinge zu sehen, die sie gar nicht sehen wollte …
Mademoiselle Viala trägt eine weiße Leinenbluse, Jeans und weiße Segelschuhe. Ihre Arme sind weich und braungebrannt, und ihr Lippenstift ist leuchtend rot. Sie hätte gut aus Paris sein können. Sie holt eine kleine Flasche Evian aus der unhandlichen Tasche und reicht sie Mélodie.
»Hier«, sagt sie. »Für dich.«
Mélodie presst die kühle Flasche gegen ihre Wange. Sie sieht, dass Jo-Jo sie anstarrt. Diese gemeinen Jungen können völlig unschuldig gucken, so unschuldig, als wüssten sie ihren eigenen Namen nicht.
»So«, sagte Jeanne Viala mit ihrer Lehrerinnenstimme, »ich bin mal gespannt, wer mir sagen kann, wie Seide hergestellt wird, nachdem wir nun alle die Ausstellung im Museum gesehen haben.«
Mélodie schaut weg, nach oben, zur Seite, in die Ferne zum hüpfenden Licht, zum unsichtbaren Wind … Um sie herum heben die Kinder ihre Arme, ganz wild darauf, Mademoiselle Viala zu erzählen, was sie wissen oder was sie, wie Mélodie argwöhnt, schon immer gewusst haben, weil sie ein Teil dieser Landschaft sind und hier geboren wurden.
Jo-Jo sagt:
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