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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Schwimmclub zu den anderen Kindern sagte: »Seht euch Mélodie an. So möchte ich, dass ihr alle ausseht, wenn ihr taucht: wie ein Vogel, anmutig und leicht.«
    Und also wird sie jetzt tauchen. Sie setzt ihren nackten Fuß an die Kante des hellen Steins. Sie will gerade zu einem sauberen Kopfsprung ansetzen, will gerade in die belebende Kühle des Weihers eintauchen, als sie … im äußersten Augenwinkel etwas sieht, das dort nicht sein sollte. Auf den ersten Blick erkennt sie nicht, was es ist. Sie muss noch einmal hinsehen. Sie muss hinstarren.
    Und dann beginnt sie zu schreien.

D er Wandteppich (»Französisch, ländliche Szene, spätes Louis XV, Aubusson«) zeigte eine Gruppe elegant gekleideter Aristokraten, die im Schatten breitblättriger Bäume im Gras saßen. Zwei Bedienstete, ein älterer Mann und eine junge Frau, näherten sich der Gruppe mit Fleisch, Brot, Wein und Früchten.
    Ein Hund lag schlafend in der Sonne. Im Hintergrund (»Partielle Abnutzungen, Webstruktur leicht verhärtet«) war eine Wiese voller Blumen zu erkennen. Der Rand war aufwendig gestaltet (»Herkömmliche Randmusterung: Wappen, Rosen, Eichenblätter«), die Farben (»Rot, Blau und Grün auf neutralem Grund«) wirkten dezent und ansprechend.
    An einem kalten Frühlingsmorgen stand Anthony Verey in seinem Londoner Laden, Anthony Verey Antiquitäten , wärmte sich die Hände an einem Becher mit Kaffee und schaute zu seinem Wandteppich hoch. Der Teppich war schon lange in seinem Besitz. Vier Jahre? Fünf ? Ersteigert auf einer Privatauktion in Suffolk. Er hatte ihn so unbedingt haben wollen, dass er mehr als tausend Pfund über den Mindestpreis von sechstausend Pfund gegangen war, und als er im Laden angeliefert wurde, ließ erihn ganz hinten an die Wand hängen, gegenüber vom Schreibtisch, an dem er in letzter Zeit ständig saß und so tat, als hätte er irgendwelche Arbeiten zu erledigen. In Wirklichkeit aber bewachte er in einem Zustand leichter Tagträumerei seine herrlichen Besitztümer – seine Lieblinge , wie er sie nannte –, und manchmal schaute er an ihnen vorbei zum Fenster und beobachtete die Fußgänger auf der Pimlico Road.
    Als der Wandteppich erst einmal aufgehängt war, fand Anthony die Vorstellung, das Stück zu verkaufen, zunehmend beunruhigend. Der angesetzte Verkaufspreis – 14 000 Pfund –sollte mögliche Käufer abschrecken, tatsächlich existierte dieser Preis allerdings nur in Anthonys Kopf, er stand nirgendwo. Manchmal behauptete er, nach dem Wandteppich gefragt, er besitze ihn gar nicht, habe ihn nur in Verwahrung. Manchmal verkündete er, der Verkaufspreis bewege sich »in der Gegend von 19 000 Pfund«, und wartete gespannt auf das Zusammenzucken der Interessenten. Und manchmal erklärte er geradeheraus, der Teppich stehe nicht zum Verkauf. Er war sein: sein eigener Louis XV Aubusson. In seinem tiefsten Herzen wusste Anthony, dass er sich nie von ihm trennen würde.
    Anthony war ein Mann von vierundsechzig Jahren, mittelgroß und mit dichtem grauen, welligen Haar. Heute trug er einen roten Rollkragenpullover aus Kaschmir unter einem weichen braunen Tweedjackett. Es war nie sehr warm im Laden, denn bei Temperaturen über fünfzehn Grad neigten die Lieblinge dazu, abzuplatzen, sich zu verziehen, auszubleichen oder zu reißen. Anthony selbst fürchtete jedoch die Kälte, hager wie er war. Er hatte an seinem Schreibtisch einen schweren alten Ölradiator stehen, der an Winternachmittagen kameradschaftlich knackte. Er trank eine Menge sehr heißen, gelegentlich mit Kognak gewürzten Kaffee. Er trug Thermosocken. Manchmal sogar einen Schal und wollene Handschuhe.
    Er wusste, dass dieses umständliche Theater um die Lieblinge exzentrisch war, doch das kümmerte ihn nicht. Anthony Verey hatte keine Ehefrau, weder männliche noch weibliche Geliebte, keine Kinder, Hunde oder Katzen. Im Laufe seines Lebens hatte er all das in unterschiedlichen Paarungen und Kombinationen besessen – alles außer einem Kind. Doch jetzt war er allein. Er war zu einem Mann geworden, der Einrichtungsgegenstände liebte und sonst nichts.
    Anthony trank den Kaffee in kleinen Schlucken. Sein Blick ruhte noch immer auf dem Wandteppich mit den Aristokraten, die rechts, vor den Bäumen, saßen, während die Bediensteten sich von links näherten. Der schlafende Hund und die fröhlichen,erwartungsvollen Gesichter der Menschen sprachen von einem Augenblick ungestörter, genussvoller Zufriedenheit. Gerade wurde das Mittagessen gebracht. Die

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