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Der unausweichliche Tag - Roman

Der unausweichliche Tag - Roman

Titel: Der unausweichliche Tag - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Das habe ich dir ja schon gesagt, als Vater starb: etwas Kleines, das du in Ordnung halten kannst …«
    Sie unterbrach ihn, indem sie das unförmige Paket vom Boden hochnahm und vor ihm auf den Tisch legte.
    »Das habe ich dir mitgebracht«, sagte sie.
    »Was ist das?«, fragte er. »Ich darf keine Sachen besitzen.«
    »Es ist keine ›Sache‹«, sagte sie.
    Mit seinen Landarbeiterhänden entfernte er das Zeitungspapier. Langsam und zögerlich. Und was dann schließlich, von seiner Hülle befreit, vor ihm auf dem Tisch lag, war ein blühender Kirschzweig.
    Audrun beobachtete Aramon. Er hob die Hände, als hätte er Angst, den Zweig zu berühren, doch seine Augen, die so seltsam glänzten, starrten ihn staunend an. Er schien – mit allen Sinnen – den Duft und die Schönheit der Blüten zu trinken. Dann nahm er den Zweig in die Hand und barg sein Gesicht darin und begann zu weinen.
    Audrun blieb sehr still auf ihrem Stuhl sitzen. Sie blickte kurz zu den Wärtern hinüber, sah den verwunderten Ausdruck in ihren Gesichtern, doch es war nicht Aramons Weinen, das sie beunruhigte. Sie schienen es nicht einmal bemerkt zu haben, da sie den Regen beobachteten, der jetzt heftig gegen die Fenster trommelte. Sie hörte den einen sagen, es werde schon dunkel hier drinnen, obwohl es doch mitten am Nachmittag sei.
    Sie blieb ganz still, ließ Aramon weinen wie ein Kind, ließ die Dunkelheit des nahenden Unwetters um sie herum von Minute zu Minute dichter werden. Sie sah, wie Aramons magere Brust sich beim Weinen heftig hob und senkte, als ihm die Luft wegzubleiben drohte. Dann blickte er sie an und sagte: »Warum hast du den mitgebracht? Warum?«
    »Ich glaube«, sagte sie, »als ich ihn sah, dachte ich … ich dachte an dich und mich, wie wir einmal waren. Damals als wir gut zueinander waren.«
    Er legte den Zweig auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. Er weinte jetzt heftiger, und nun kamen die Wärter auch näher. Beide machten besorgte Gesichter, und der Ältere legte Aramon seine Hand auf die Schulter.
    » Allez , Lunel«, sagte er. »Nicht traurig sein. Kommen Sie, wir bringen Sie jetzt zurück in Ihre Zelle.«
    »Madame«, sagte der andere Beamte. »Ich bedaure, aber Ihre Besuchszeit ist zu Ende.«
    Audrun stand gehorsam auf, aber Aramon ergriff plötzlich ihre Hand. »Es tut mir leid!«, stammelte er. »Ich habe das längst sagen wollen! Es tut mir leid! Du warst meine Prinzessin … ja, das warst du. Du warst meine Prinzessin, und ich fand keine andere. Du warst meine Prinzessin, immer!«
    Es herrschte Stille im Raum, nur unterbrochen vom Geräusch des Regens an den Fensterscheiben. Audrun sagte nichts, hielt aber Aramons Hand behutsam in ihrer, hielt sie einen Moment lang zärtlich fest, bevor sie ihr entrissen wurde und die Wärter ihren Bruder abführten.
    Die Tür öffnete und schloss sich, und Audrun hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde, und sie wusste, sie war allein. Sie blickte auf den Kirschzweig, der auf dem Tisch liegen geblieben war, und sie sah, dass die weißen Blüten noch immer hell leuchteten, als alles um sie herum schon zu verschwimmen begann.

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