Der Unheimliche Weg
alle irgendwie gleich aus, dachte Sylvia. Alle liegen sie außerhalb der Stadt und machen darum einen öden und verlassenen Eindruck. Und warum muss man nur immer so lächerlich früh da sein? Sie hatten beinahe eine halbe Stunde im Warteraum verbracht, und Sylvia war schon ganz betäubt von dem unaufhörlichen Redefluss Mrs Calvin Bakers, die sich ihr wirklich angeschlossen hatte.
Aber nun wurde Mrs Bakers Interesse glücklicherweise durch zwei andere Reisende gefesselt, die in ihrer Nähe Platz benommen hatten. Es waren zwei junge Männer, beide blond und hochgewachsen. Der eine, um dessen Lippen ständig ein freundliches Lächeln spielte, schien Amerikaner zu sein, der andere ein sehr ernst und versonnen aussehender Skandinavier.
Offenbar war der Amerikaner entzückt, in Mrs Baker eine Landsmännin zu entdecken. Diese übernahm es, ihre Reisegefährtin als Mrs Olivia Betterton vorzustellen.
»Ich heiße Andrew Peters, von meinen Freunden Andy genannt«, sagte der junge Amerikaner. Der andere stand auf, verbeugte sich ungelenk und nannte seinen Namen: »Torquil Ericsson.«
»So, nun kennen wir uns alle«, sagte Mrs Baker hochbefriedigt. »Fliegen Sie auch nach Marrakesch? Meine Freundin hier besucht es zum ersten Mal.«
»Auch wir besuchen Marrakesch zum ersten Mal«, sagte Peters.
Eine Lautsprecherstimme forderte die Wartenden auf, sich zum Flugzeug zu begeben. Außer Mrs Baker und Sylvia gab es noch vier Passagiere: Peters, Ericsson, einen hageren Franzosen und eine ernst blickende Nonne.
Es war ein klarer, sonniger Tag, der einen ruhigen Flug versprach. Sylvia lehnte sich in ihren Sitz zurück und betrachtete aus halbgeschlossenen Augen ihre Mitreisenden. Auf der anderen Seite saß Mrs Baker, die in ihrem grauen Reisekostüm wie eine dicke, zufriedene Ente wirkte. Sie unterhielt sich offenbar gut mit dem vor ihr sitzenden Peters. Sylvia gegenüber saß der junge Norweger. Hinter ihr hatte die Nonne Platz genommen – stocksteif hockte sie da, mit stumpfem, gleichgültigem Gesichtsausdruck. In ihrer mittelalterlichen Ordenstracht wirkte sie sehr seltsam als Passagier eines so neuzeitlichen Beförderungsmittels.
Sylvia schloss die Augen und vergaß ihre Mitreisenden. Sie dachte an ihre Vorschriften und überprüfte ihr Verhalten. Hatte sie auch alles richtig gemacht? War ihr kein Fehler unterlaufen? Plötzlich fiel ihr ein, dass Laurier die Tatsache ihrer Überwachung in Marokko ganz selbstverständlich gefunden hatte. Und nun sollte sie nach England zurück. Das war doch verrückt? Oder hatte sie versagt, und man wollte sie loswerden? Sie brauchte nicht zu »verschwinden« wie ihr Mann, sie war nur noch eine harmlose Reisende. Sie würde über Paris nach England gehen – und vielleicht in Paris – ja, natürlich in Paris, wo Thomas Betterton verschwunden war, da konnte man eine Entführung viel besser über die Bühne bringen. Unter diesen Überlegungen war sie unvermerkt eingeschlummert. Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie nicht, als sie mit einem plötzlichen Ruck auffuhr: Das Flugzeug befand sich schon in der Landungsphase und beschrieb immer engere Kreise. Sie sah auf die Uhr. Aber die zeigte noch nicht die Stunde der Ankunft in Marrakesch. Auch konnte sie durch einen Blick aus dem Fenster feststellen, dass sich weit und breit kein Flughafen befand. Alles höchst sonderbar!
Der hagere Franzose stand auf, gähnte, streckte sich und sagte irgendetwas auf Französisch, das sie nicht verstand.
Ericsson rief: »Es scheint, dass wir hinuntergehen – aber warum nur?«
»Wir landen offenbar«, entgegnete Sylvia, wozu Mrs Baker bestätigend nickte. Das Flugzeug verlor zusehends an Höhe. Die Gegend unter ihnen schien vollkommen verödet. Da waren noch nicht mal einzelne Häuser, geschweige denn Dörfer zu sehen. Das Flugzeug setzte auf, rollte aus und kam dann zum Stillstand. Es war eine etwas gewaltsame Landung auf einem vollkommen verödeten Platz. War etwas mit den Motoren geschehen?
Der Pilot, ein südländisch aussehender, hübscher junger Mann, kam aus dem Cockpit und sagte, indem er den Gang zwischen den Passagieren entlangschritt: »Bitte, steigen Sie alle aus!«
Er öffnete die hintere Tür, ließ eine Leiter hinab und überwachte von oben das Aussteigen der Reisenden. Als sie auf der Erde standen, begannen sie zu frösteln, denn es war kühl hier, und der Wind strich scharf von den Bergen herüber, deren Kuppen mit Schnee bedeckt waren und in einzigartiger Schönheit leuchteten.
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