Der unmoegliche Mensch
einem seiner blauen Augen anzusehen. »Wen hast du für den Jungen?« fragte er in einem schärferen Ton. »Nathan ist noch hier, glaube ich…«
»Einen von den jüngeren Burschen, James. Du wirst ihn vielleicht nicht kennen, aber er ist tüchtig. Knight.«
»Knight?« Der Name wurde mit nur einer Andeutung eines Kommentars wiederholt. »Und wann geht der Junge hin?«
»Morgen. Nicht wahr, Conrad?«
Conrad wollte gerade sprechen, als er ein leises Geräusch vom Bett kommen hörte. Dr. Matthews lachte leise in sich hinein. Plötzlich erschöpft von dieser bizarren Szene und unter dem Eindruck, daß der makabre Humor des sterbenden Arztes gegen ihn gerichtet war, stand Conrad von seinem Stuhl auf und schlug seine Stöcke zusammen. »Onkel, kann ich draußen warten…?«
»Mein Junge – « Dr. Matthews hatte seine rechte Hand herausgestreckt und winkte schwach. »Ich habe über Ihren Onkel gelacht, nicht über Sie. Er hatte immer viel Sinn für Humor. Oder gar keinen. Wie war es, Theo?«
»Ich sehe nichts Komisches daran, James. Willst du sagen, ich hätte ihn nicht herbringen sollen?«
Dr. Matthews lag da und lächelte noch immer. »Keineswegs – ich war dabei, als er ankam, laß ihn dabeisein, wenn ich gehe…« Er sah Conrad wieder an. »Ich wünsche Ihnen das Allerbeste, Conrad. Ohne Zweifel fragen Sie sich, warum ich nicht mit Ihnen ins Krankenhaus gehe.«
»Nun, ich…« Conrad begann, aber sein Onkel faßte ihn an der Schulter.
»James, wir müssen jetzt gehen. Ich glaube, wir haben uns verstanden.«
»Nein, das haben wir nicht.« Dr. Matthews hob wieder die Hand und zog die Stirn kraus. »Nur einen Augenblick, Theo, aber wenn ich es ihm nicht sage, wird es niemand tun, Dr. Knight bestimmt nicht. Nun, Conrad, Sie sind jetzt siebzehn?«
Als Conrad nickte, fuhr Dr. Matthews fort: »In diesem Alter, erinnere ich mich, scheint das Leben sich unendlich fortzusetzen, scheint die Lebenserwartung sehr nahe an die Ewigkeit heranzukommen. Wenn man älter wird, entdeckt man nach und nach, daß alles, was einen Wert hat, auch begrenzt ist, im wesentlichen durch die Zeit – von alltäglichen Dingen wie einer Blume oder einem Sonnenuntergang bis zu den wichtigsten Dingen, der Ehe, den Kindern und so weiter, sogar dem Leben selbst. Die harten Linien um die Dinge geben ihnen ihre Identität. Nichts ist strahlender als der Diamant.«
»James, das reicht…«
»Still, Theo!« Dr. Matthews hob seinen Kopf, und es gelang ihm beinahe, sich aufzurichten. »Vielleicht, Conrad, können Sie Dr. Knight erklären, daß wir uns, gerade weil wir unser Leben hoch einschätzen, weigern, es uns verdünnen zu lassen. Es liegen tausend Trennstriche zwischen Ihnen und mir, Conrad, Unterschiede des Alters, des Charakters und der Erfahrung, Unterschiede der Zeit. Sie müssen sich das, was uns unterscheidet, selbst verdienen. Sie können es nicht von jemand anders borgen, am wenigsten von den Toten.«
Conrad sah sich um, als die Tür sich öffnete. Die ältere Nonne stand draußen im Flur. Sie nickte seinem Onkel zu. Conrad rückte sein Bein für den Heimweg zurecht und wartete darauf, daß Onkel Theodore sich von Dr. Matthews verabschiedete. Als die Nonne ans Bett trat, sah er auf dem Rock ihrer gestärkten Tracht einen kleinen Blutspritzer.
Draußen humpelten sie zusammen an der Leichenbestattungsfirma vorbei, Conrad schwer auf seine beiden Stöcke gestützt. Während die alten Leute in den Gärten ihnen zuwinkten, sagte Onkel Theodore: »Es tut mir leid, daß er dich auszulachen schien. Er hat es nicht so gemeint.«
»War er dabei, als ich geboren wurde?«
»Er hat deiner Mutter beigestanden, hat dich zur Welt gebracht. Ich hielt es für ganz richtig, daß du ihn noch sahst, bevor er stirbt. Auch um ihm noch eine Freude zu machen. Warum er das so komisch fand, kann ich nicht verstehen.«
Fast sechs Monate nach diesem Tag ging Conrad Foster zur Strandstraße und ans Meer hinunter. Er sah im Sonnenschein die hohen Dünen über dem Strand und dahinter die Möwen auf der überspülten Sandbank in der Flußmündung. Der Verkehr auf der Sandstraße war dichter, als er es von seinem letzten Besuch in Erinnerung hatte. Der von den Rädern der vorbeirasenden Autos aufgewirbelte Sand wehte in dünnen Wolken über die Felder.
Conrad ging mit flotten Schritten die Straße entlang und prüfte sein neues Bein auf seine Leistungsfähigkeit. Während der letzten vier Monate hatten sich die Verbindungen
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