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Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
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19
    Miteinander zu sprechen wäre zu diesem Zeitpunkt noch eine Übertretung gewesen. Da war eine Grenze, der Kiesweg. Hier meine, dort seine Bank. Dazwischen Grashalme, ein rollender Ball, ein Kind, das hinterherpurzelte.
    Zwei Jahre lang hatte ich mich darin geübt, das Sprechen zu verlernen. Zugegeben, es war mir nicht gelungen. Die Sprache, die ich gelernt hatte, durchdrang mich, und sogar, wenn ich schwieg, war mein Schweigen beredt. Ich sprach innere Monologe, sprach unentwegt in die Sprachlosigkeit hinein. Der Klang meiner Stimme jedoch hatte sich in mir verfremdet. Nachts wachte ich zuweilen schweißgebadet aus einem Albtraum auf, nur um ihn fortgesetzt zu finden in dem rohen Aaah, das aus meinem Bauch, meinen Lungen, meiner Kehle drang. Wer ist das, der da schreit, fragte ich mich und schlief wieder ein. Wanderte durch eine Landschaft, in der jeder Laut im Moment seines Entstehens verhallte. Der letzte Satz, den ich ausgesprochen hatte, war gewesen: Ich kann nicht mehr. Punkt. Ein vibrierender Punkt. Danach war etwas zugeschnappt. Die Anstrengung, die es kosten würde, dort weiterzusprechen, wo ich aufgehört hatte, stand gegen die Sinnlosigkeit, in Worte zu fassen, was sich nicht ausdrücken ließ.
    Mein Zimmer glich nach wie vor einer Höhle. Hier war ich groß geworden. Hier hatte ich im eigentlichsten Sinne meine Unschuld verloren. Ich meine, groß zu werden bedeutet einen Verlust. Man glaubt zu gewinnen. In Wahrheit verliert man sich. Ich trauerte um das Kind, das ich einmal gewesen war und das ich in raren Momenten in meinem Herzen wild um sich schlagen hörte. Mit dreizehn war es zu spät gewesen. Mit vierzehn. Mit fünfzehn. Die Pubertät ein Kampf, an dessen Ende ich mich verloren hatte. Ich hasste mein Antlitz im Spiegel, das Sprießende, Treibende darin.Die Narben an meiner Hand stammen alle von dem Versuch, es wiedergutzumachen. Unzählige Spiegel, zerschlagen. Ich wollte kein Mann sein, der glaubt, er gewinnt. In keinen Anzug hineinwachsen. Kein Vater sein, der seinem Sohn sagt: Man muss funktionieren. Vaters Stimme. Mechanisch. Er funktionierte. Wenn ich ihn ansah, sah ich eine Zukunft, in der ich langsam, zu langsam ums Leben kommen würde. Nichts funktioniert, hatte ich zurückgegeben. Und dann: Ich kann nicht mehr. Dieser letzte Satz war mein Leitspruch. Das Motto, das mich überschrieb.

20
    Derart überschrieben saß ich auf meiner Bank, als er wieder einmal, Punkt neun, plötzlich aufgetaucht war. Es war ein Donnerstag, ich erinnere mich: Er kam, gebeugt wie unter einer schweren Last. Ich bildete mir ein, er sei über Nacht gealtert. Die Falten an seinem Hals, als er mir zunickte. Da bist du ja. Ich nickte zurück. Und mehr noch als das: Ich nickte eine Einladung. Mir selber unbegreiflich, nickte ich ihm, der gealtert war, zu und nickte selbst dann noch, als er mir entgegenkam, zögernd, über die Grenze hinweg, und mir eine Zigarette anbot.
    ÅŒhara Tetsu. Er verbeugte sich leicht. Hajimemashite.* Du rauchst nicht? Ist gut. Fang besser gar nicht damit an. Es ist eine Abhängigkeit. Siehst du, ich brauche das. Er setzte sich neben mich, zwischen uns seine Aktentasche. Das Klicken des Feuerzeugs, er paffte. Eins dieser Dinge, sagte er, die ich nicht lassen kann. Wieder nickte ich. Ich habe alles probiert. Umsonst. Ich komme nicht los davon. Mir fehlt der Wille. Sicher kennst du das. Belegte Stimme, er hüstelte. In der Firma, sagte er weiter, rauchen alle. Es ist derStress, der nie aufhört. In der Firma. Er bückte sich, drückte die Zigarette aus. Den Rest des Morgens verbrachten wir schweigend auf unserer Bank. Mit einem Nicken war sie zu unserer geworden.
    Hin und wieder kam jemand vorbei. Eine Mutter, die einen Kinderwagen schob. Ein hinkender Mann. Ein Grüppchen Schulschwänzer in zerknitterten Uniformen. Die Erde drehte sich. Auffliegende Vögel. Ein Schmetterling, der sich für Sekunden auf der Bank gegenüber niederließ. Nebeneinander sitzend, schauten wir ihm nach, wie er davonschwebte. Leise Ahnung, dass es von nun an kein Zurück mehr gäbe.

21
    Von Kyōko, sagte er, als er zu Mittag sein Bentō auspackte. Karaage* mit Kartoffelsalat. Von meiner Frau. Sie ist eine wunderbare Köchin. Magst du? Nein? Er lächelte verlegen. Du musst wissen, sie steht jeden Morgen um sechs Uhr auf, um mir mein Bentō zuzubereiten. Dreiunddreißig Jahre lang. Jeden Morgen um sechs. Und das Beste daran:

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