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Der unmoegliche Mensch

Der unmoegliche Mensch

Titel: Der unmoegliche Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. G. Ballard
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unter nur ganz geringen Schmerzen gefestigt, und das Bein war eher kräftiger und elastischer, als sein eigenes je gewesen war. Manchmal, wenn er gedankenlos dahinschritt, schien es ihm mit einem eigenen Willen und Leben davonlaufen zu wollen.
     Doch trotz seiner Brauchbarkeit und der Erfüllung all dessen, was Dr. Knight versprochen hatte, nahm Conrad das Bein nicht an. Die haarfeine Narbenlinie, die seinen Oberschenkel über dem Knie umspannte, war eine klarere Grenze zwischen den beiden als irgendeine physische Barriere. Wie Dr. Matthews festgestellt hatte, verdünnte das Vorhandensein des Beins ihn und reduzierte sein Identitätsgefühl. Dieses Gefühl hatte mit jeder Woche und jedem Monat zugenommen, während das Bein selbst kräftiger wurde. Nachts lagen sie zusammen da wie stille Partner in einer unglücklichen Ehe.
     In den ersten Monaten seiner Genesung hatte Conrad sich bereit erklärt, Dr. Knight und die Krankenhausleitung auch beim zweiten Abschnitt der Kampagne zu unterstützen, mit der sie die Alten zu überreden versuchten, sich der restaurativen Chirurgie anzuvertrauen, statt ihr Leben wegzuwerfen. Aber nach dem Tod von Dr. Matthews entschloß sich Conrad, seine Mitarbeit aufzugeben. Im Gegensatz zu Dr. Knight erkannte er, daß es keine wirkliche Möglichkeit der Überzeugung gab und daß die Leute überhaupt erst bereit waren, über die Sache zu reden, wenn sie auf dem Sterbebett lagen, so wie Dr. Matthews. Die andern lächelten einfach und winkten aus ihren stillen Gärten.
     Außerdem wußte Conrad, daß seine eigene wachsende Ungewißheit wegen des neuen Beins ihren scharfen Blicken bald nicht mehr entgehen würde. Eine große Narbe verunzierte jetzt die Haut über dem Schienbein, und der Grund war einfach. Als er sich bei der Arbeit mit Onkel Theodores Rasenmäher verletzt hatte, ließ er es absichtlich zu einer Vereiterung der Wunde kommen, als ob diese Selbstverstümmelung die Amputation des Gliedes symbolisieren sollte. Aber es schien nach diesem Aderlaß nur noch besser zu gedeihen.
     Hundert Meter vor ihm lag die Abzweigung von der Strandstraße. Er sah, wie die leichte Brise den feinen Staub von der Straßenfläche hob. Etwa vierhundert Meter weiter vorn näherte sich eine Fahrzeugschlange mit hoher Geschwindigkeit, und die Fahrer der Personenwagen versuchten, die vor ihnen fahrenden zwei schweren Laster zu überholen. Weit draußen über der Flußmündung hörte er einen leisen Schrei. Obgleich er müde war, fing Conrad plötzlich zu laufen an. Irgendwie zog ihn ein vertrautes Zusammentreffen von Ereignissen an den Ort seines Unfalls zurück.
     Als er an der Ecke ankam, näherte sich der erste Lastwagen, und der Fahrer blinkte mit den Scheinwerfern, während Conrad am Randstein stand und es kaum abwarten konnte, zu der Verkehrsinsel mit dem frisch gestrichenen Mast zu gelangen.
     Über dem Lärm sah er die Möwen auf dem Strand aufsteigen, und er hörte ihre schrillen Schreie, als der weiße Krummsäbel über den Himmel zog. Als er über dem Strand hinabstieß, begaben sich die alten Männer mit den Gaffeln von der Straße zu ihren Verstecken in den Dünen.
     Der Laster donnerte an Conrad vorbei, und der graue Staub juckte auf seinem Gesicht, als er von den Luftwirbeln getroffen wurde. Eine schwere Limousine rollte vorbei, überholte den Laster, und die anderen Personenwagen drängten hinterher.
     Die Möwen begannen sich schreiend auf den Strand zu stürzen, und Conrad rannte durch den Staub mitten auf die Straße und lief in die Autos, die auf ihn zurasten.

Der ertrunkene Riese

    Am Morgen nach dem Sturm wurde acht Kilometer nordwestlich der Stadt die Leiche eines ertrunkenen Riesen an den Strand gespült. Die erste Nachricht stammte von einem Bauern, der in der Nähe wohnte, und wurde später von Zeitungsreportern und von der Polizei bestätigt. Trotzdem blieben die meisten Leute skeptisch, auch ich selbst. Aber als immer mehr Augenzeugen die ungeheure Größe des Riesen bestätigten, konnten wir unsere Neugierde doch nicht mehr bezähmen. Die Bibliothek, wo meine Kollegen und ich mit Forschungsarbeiten beschäftigt waren, stand fast leer, als wir uns kurz nach zwei Uhr auf den Weg zur Küste machten. Den ganzen Tag über verließen Leute ihre Büros und Geschäfte, während Berichte über den Riesen die Stadt durchliefen.
     Als wir die Dünen vor dem Strand erreichten, hatte sich schon eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt, und wir sahen die Leiche zweihundert Meter

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