Der unsichtbare Killer
die unsichere, am Kai befestigte Metallleiter hinab, begleitet von dem unaufhörlich lautlos fallenden Schnee. Unten nahmen ihn zwei Agency-Tauchspezialisten in Empfang und hielten ihn fest, damit er auf dem eisüberzogenen Deck nicht ausrutschte. Ihre beheizbaren Tauchanzüge waren das Beste vom Besten und genau das Richtige dafür, sie, während sie in eiskaltem, dreckigem Wasser herumplantschten und dabei die ganze Zeit versuchten, Gurte an einer ungünstig halb unter Wasser dümpelnden Leiche zu befestigen, angenehm warm zu halten. Die hautengen Masken waren zurückgeschoben und gaben den fidelen Ausdruck ihrer Gesichter preis, der ganz entschieden nicht zur Situation und zum Wetter passen wollte. Zumindest veranschaulichten ihre Mienen, wie effektiv die Anzüge sein mussten.
Der Captain zumindest war ein Original der Stadtpolizei: Detective Darian Foy. Sid kannte ihn noch von früher.
»Bitte um Erlaubnis, an Bord kommen zu dürfen«, sagte Sid.
Darian erkannte ihn und streckte sich. »Guten Abend, Detective. Kein erfreulicher Fund, fürchte ich.«
»Ah ja?« Irgendetwas stimmte absolut nicht mit Darians Antwort. Zu förmlich. Was Sid bewusst machte, dass das hier von Wichtigkeit war. Er wünschte, er hätte ebenfalls eine Rechtsschutz-Vollversicherung wie Kenny Ansetal und irgendein neunmalkluger Anwalt würde plötzlich neben ihm materialisieren, um darauf zu achten, dass alles, was er sagte, rechtsformal einwandfrei war. Doch in Ermangelung dessen musste er nun auf die strenge Einhaltung der Dienstvorschrift setzen. Da war es nicht gerade hilfreich, dass er die letzten drei Monate frei gehabt hatte …
»Lassen Sie sehen«, sagte er.
Während hinter ihm die beiden Taucher Ian an Bord halfen, führte Darian ihn hinüber auf die Rückseite der kleinen Kabine. Die Leiche lag auf einer Bergungstrage, die mit der Mittschiffswinde auf das Deck heruntergelassen worden war. Sie war mit einer Plastikplane zugedeckt. Zwei Scheinwerfer auf dem Kabinendach leuchteten auf sie herab und schufen ein weißes, mit der finsteren Nacht streitendes Licht.
Darian sah ihn mit einem letzten, vorwarnenden Blick an und schlug die Plastikplane zurück.
Sid hoffte sehr, dass er sein »Ach du Scheiße« nicht laut gesagt hatte.
Auf jeden Fall echote es lange genug in seinem Schädel herum. Aber er hatte es wohl doch kundgetan, denn direkt hinter ihm murmelte Ian: »Jau, da kannst du einen drauf lassen.«
Der weiße gefrorene Körper des Mannes war nackt. Was nicht das Schlimme an der Sache war. Und auch die ungewöhnlich tiefe Wunde knapp oberhalb seines Herzens war nicht der Karrierekiller. Nein, das, was Sid geradezu fauchend ins Gesicht sprang, war die Identität des Opfers.
Es war ein North.
Das bedeutete, dass es eine gerichtliche Untersuchung würde geben müssen. Und zwar eine, die mit einer absolut wasserdichten Verurteilung endete, die über jeden juristischen Zweifel und dem der Medien erhabenen zu sein hatte.
Es waren einmal – vor hunderteinunddreißig Jahren, um präzise zu sein – drei Brüder. Sie waren Drillinge. Von unterschiedlichen Müttern geboren. Perfekte Klone ihres unglaublich vermögenden Vaters, Kane North. Er gab ihnen die Namen Augustine, Bartram und Constantine.
Doch obwohl sie hervorragende Kopien ihres Bruders/Vaters darstellten – der seinerseits wie alle North den berühmt-berüchtigten Elan der Familie sowie deren Liebe zum Geld und intellektuellen Fähigkeiten besessen hatte –, waren sie nicht ohne Mangel. Die Genmanipulation, mittels derer sie geschaffen worden waren, hatte seinerzeit noch in den Kinderschuhen gesteckt. Kanes DNA war mittels einfachster Keimbahntechnik im Embryo fixiert worden. Das hieß, dass Kanes charakteristische biologische Identität in jeder Zelle des neuen Körpers eingeschlossen und dominierend war, einschließlich des Spermatozoons. Jede Frau, die ein Kind von einem der Brüder bekam, brachte wieder eine weitere Kopie des Originals hervor. Und genau da lag die Krux in der neuen dynastischen Ordnung: Wie bei allen Arten der Replikation traten bei den Kopien von Kopien unvermeidlich Verschlechterungen auf. Fehler begannen sich in die DNA einzuschleichen, wenn sie sich selbst reproduzierte. Die 2Norths, wie die nächste Generation genannt wurde, waren beinahe so gut wie ihre Väter – gleichwohl sie jetzt mit fast unmerklichen Mängeln behaftet waren. Die 3Norths waren noch von geringerer Qualität. Die 4Norths wiesen sowohl physiologische wie psychische
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