Der unsichtbare Zweite
Fernsehkamera heraus.
»Tja«, sagt Lauretta, und mir ruft sie zu: »Er hat die Taschen verwechselt, Slucca, schnell! Nimm das Maschinengewehr aus seiner!«
Er flucht, versucht, ihr ins Lenkrad zu fallen, aber der Sicherheitsgurt behindert ihn, die schmerzende Schulter entlockt ihm weitere Flüche, das Mädchen erklärt ihm, falls er mit dem Scheiß nicht aufhöre, landeten wir alle nach mindestens dreifachem Überschlag da unten in der Schlucht. Eine Sekunde lang denke ich daran, dass der Geländewagen Vasone gehört und ich ihn ihm ersetzen muss, aber automatisch gehorche ich, greife in die andere, genau gleiche Sporttasche, und tatsächlich ist darin ein schweres hartes Etwas, und es ist kein dicker Wasserhahn, o nein, es ist ein kurzes MG, so ein Ding, wie man es in den Fernsehfilmen sieht, ich ziehe es heraus und will es dem Mädchen reichen, aber die brüllt, was machst du denn da für einen Quatsch, Slucca, halt es ihm an den Kopf, los! Als wäre das eine ganz natürliche Sache für einen, dessen Lieblingswaffe die Wasserpistole seiner Neffen ist.
»Aber ich bin gegen Gewalt!« schreie ich, wie ich noch nie geschrien habe, nicht einmal, als Onorevole Bazzecca mich öffentlich beschuldigt hat, durch meine Abwesenheit im Saal absichtlich eine entscheidende Maßnahme zur Förderung des Exports von italienischem Eis in China vereitelt zu haben.
»Mach doch nicht ausgerechnet jetzt auf Mahatma, Slucca!« schreit die junge Frau. »Denk lieber ans Schießen, eventuell!«
»Und wo muss ich eventuell draufdrücken, ich sehe hier gar nicht, wo ...«
An diesem Punkt fängt der Neapolitaner an zu zittern, hebt ungeschickt die Arme bis zum Wagendach hoch und brüllt ebenfalls: »Ist ja gut, ist ja gut, ich ergebe mich, der da ist imstande und macht mich aus Versehen kalt, drücken Sie nirgendwo drauf, Onorevole, um Gottes willen, ich ergebe mich!«
Mein Standpunkt ist nicht klar, ist schon eher als geistige Verwirrung zu bezeichnen. War dieser Mann da nicht Mario - oder Marco - Rossi, Reisender in Wasserhähnen, den ich bis nach Macerata mitnehmen sollte?
»Du bist ja völlig blind, Slucca, guck doch auf den Bildschirm, wach auf!«
Auf dem Zwergbildschirm ist immer noch das Zuchthäuslergesichtchen des gefährlichen Ausbrechers zu sehen.
»Das ist er doch, siehst du das nicht?«
»Aber der ist ihm doch überhaupt nicht ähnlich!«
»Es ist ein altes Foto«, brummt der Flüchtige, immer noch mit mehr oder weniger erhobenen Händen.
Und außerdem ist das Bild verwischt, in Pünktchen zersetzt, und es wackelt bei jedem Stein.
»Also ich finde objektiv ...«, fange ich an, aber das Mädchen hält mit einem Ruck den Wagen an, entreißt mir das Maschinengewehr, macht die Tür auf, springt hinaus und richtet durch das Fenster die Waffe auf den falschen Mauro (oder Marco) Rossi.
»Ich kann damit umgehen, ich übe jeden ersten Donnerstag im Monat auf dem Schießplatz«, kündigt sie kaltblütig an. »Und deshalb keine Mätzchen, kapiert?« Dann lässt sie sich von dem Gefangenen die verwechselte Tasche geben, die er auf den Knien hat, zieht ein Stativ heraus, stellt es in weniger als einer Minute auf, richtet Fernsehkamera und Maschinengewehr auf den Ausbrecher, und mir reicht sie ein Mikrophon mit gelben Waben. »Jetzt zeige ich dir mal, was ein professionelles Interview ist, Dede. Und danach kannst du abhauen.«
»Dede!« sage ich. »Heißt er denn so?«
»Klar, ich habe ihn auf den ersten Blick erkannt. Domenico Esposito, der Bandit der fünfunddreißig Stunden. Ich war auch vor der Bank in Finale Ligure.«
»Aber was haben denn diese fünfunddreißig Stunden mit ihm zu tun?« frage ich verdutzt.
»Das ist die offizielle Dauer der Verhandlungen mit Onorevole Minima Malvolio. Sie geht in die Bank hinein, er leistet fünfunddreißig Stunden lang Widerstand, aber schließlich wird er weich, lässt die Geiseln laufen, ergibt sich.«
»Eine außergewöhnliche Frau«, sagt Esposito. »Diese fünfunddreißig Stunden werde ich nie vergessen.«
»Und von dem Tag an«, erklärt die Reporterin, »ist sein Spitzname eben Dede der Dialogator. So, Dede, jetzt schau direkt in die Kamera und erzähl uns deine Version der Tatsachen. Los, Slucca, halt ihm das Mikrophon hin!«
Dede der Dialogator war einverstanden: Also erstens sei er gar kein Neapolitaner, sondern aus Casoria; und was die Zuhälterei angehe, du liebe Zeit, das sei doch bloß wieder die übliche Verleumdung der Journalisten; auch das mit seinem Ausbruch, du
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