Der Untergang des Abendlandes
Künstler hat noch »die« Natur durch Farbe und Linie wiedergegeben. Jeder Physiker, der griechische, arabische, deutsche hat »die« Natur in letzte Elemente zergliedert – warum fanden sie nicht alle dasselbe? Weil jeder seine eigene Natur hat, obwohl jeder sie mit einer Naivität, die seine Lebensanschauung rettet, die ihn rettet, mit allen andern gemein zu haben glaubt. »Natur« ist ein Besitz, der durch und durch mit persönlichstem Gehalt gesättigt ist. Natur ist eine Funktion der jeweiligen Kultur.
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Nun hat Kant die große Frage, ob dies Element »a priori« vorhanden oder durch Erfahrung erworben ist, durch seine berühmte Formel dahin zu entscheiden geglaubt, daß der Raum die allen Welteindrücken zugrunde liegende
Form der Anschauung
sei. Aber die »Welt« des sorglosen Kindes und des Träumers besitzt diese Form unzweifelhaft in schwankender und unentschiedener Art, [Der Mangel an Perspektive in Kinderzeichnungen wird von Kindern gar nicht empfunden.] und erst die gespannte, praktische,
technische
Betrachtung der Umwelt – denn frei bewegliche Wesen müssen für ihr Leben
sorgen
; nur die Lilien auf dem Felde brauchen es nicht – läßt das sinnliche Sich-dehnen zur verstandenen Dreidimensionalität erstarren. Erst der städtische Mensch hoher Kulturen
lebt
wirklich in dieser grellen Wachheit, und erst für sein Denken gibt es einen vom Sinnenleben
ganz
abgelösten (»absoluten«), toten, zeitfremden Raum als Form nicht mehr des Angeschauten, sondern des
Verstandenen
. Es ist keine Frage, daß »der« Raum, wie ihn Kant mit unbedingter Gewißheit um sich sah, als er über seine Theorie nachdachte, für seine Vorfahren zur Karolingerzeit auch nicht annähernd in dieser strengen Gestalt vorhanden war. Kants Größe beruht auf der Schöpfung des Begriffs einer »Form a priori«, aber nicht auf der Anwendung, die er ihm gab. Daß die Zeit keine Form der Anschauung ist, daß sie überhaupt keine »Form« ist – es gibt nur ausgedehnte Formen – und nur als Gegenbegriff zum Raum definiert wurde, sahen wir schon. Es ist aber nicht nur die Frage, ob gerade das Wort Raum den formalen Gehalt im Angeschauten genau deckt; es ist auch eine Tatsache, daß die Form der Anschauung sich mit dem
Grade der Entfernung ändert
: Jedes entfernte Gebirge wird als Fläche – Kulisse – »angeschaut«. Niemand wird behaupten, daß er die Mondscheibe körperhaft sehe. Der Mond ist für das Auge eine reine Fläche, und erst durch das Fernrohr stark vergrößert – also künstlich angenähert – erhält er mehr und mehr räumliche Beschaffenheit. Augenscheinlich ist die Form der Anschauung also auch eine Funktion des Abstandes. Dazu kommt, daß wir beim Nachdenken, statt uns eben vergangener Eindrücke genau zu erinnern, das Bild des von ihnen abgezogenen Raumes »vor uns hinstellen«. Aber diese Vorstellung täuscht uns über die lebendige Wirklichkeit. Kant hat sich täuschen lassen. Er hätte zwischen Formen der Anschauung und des Verstandes gar nicht scheiden dürfen, denn
sein
Begriff Raum umfaßt bereits beides. [Sein Gedanke, daß die Apriorität des Raumes durch die unbedingte anschauliche Gewißheit einfacher geometrischer Tatsachen bewiesen werde, beruht auf der schon erwähnten allzu populären Ansicht, daß Mathematik entweder Geometrie oder Arithmetik sei. Nun war schon damals die Mathematik des Abendlandes weit über dieses naive – der Antike nachgesprochene – Schema hinausgegangen. Wenn die heutige Geometrie statt »des Raumes« mehrfach unendliche Zahlenmannigfaltigkeiten zugrunde legt, unter denen die dreidimensionale ein an sich nicht ausgezeichneter Einzelfall ist, und innerhalb dieser Gruppen funktionale Gebilde hinsichtlich ihrer Struktur untersucht, so hat jede überhaupt mögliche Art von sinnlicher Anschauung aufgehört, sich formal mit mathematischen Tatsachen im Bereich solcher Ausgedehntheiten zu berühren, ohne daß deren Evidenz dadurch herabgesetzt würde. Die Mathematik ist also von der Form des Angeschauten unabhängig. Es ist nun die Frage, wie viel von der gerühmten Evidenz der Anschauungsformen für sich übrig bleibt, sobald die künstliche Übereinanderschichtung beider in einer vermeintlichen Erfahrung erkannt worden ist.]
Wie Kant sich das Zeitproblem dadurch verdarb, daß er es zu der in ihrem Wesen mißverstandenen Arithmetik in Beziehung brachte und also von einem Zeitphantom redete, dem die lebendige Richtung fehlte, das also nur ein räumliches Schema war, so verdarb er
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