Der Untergang des Abendlandes
leblosen Leichnam, der ganz Stoff, ganz Raum geworden ist, und
zugleich
fühlt es sich als einzelnes
Wesen
in einer fremden, ausgedehnten Welt. »Vom fünfjährigen Knaben bis zu mir ist nur ein Schritt. Vom Neugeborenen bis zum fünfjährigen Kinde ist eine schreckliche Entfernung«, hat Tolstoi einmal gesagt. Hier, in diesem entscheidenden Punkt des Daseins, wo der Mensch erst zum Menschen wird und seine ungeheure Einsamkeit im All kennen lernt, enthüllt sich die Weltangst als die rein menschliche
Angst vor dem Tode
, der Grenze in der Welt des Lichts, dem starren
Raum
. Hier liegt der Ursprung des höheren Denkens, das zuerst ein Nachdenken über den Tod ist. Jede Religion, jede Naturforschung, jede Philosophie geht von hier aus. Jede große Symbolik heftet ihre Formensprache an den Totenkult, die Bestattungsform, den Schmuck des Grabes. Der ägyptische Stil beginnt mit den Totentempeln der Pharaonen, der antike mit dem geometrischen Schmuck der Graburnen, der arabische mit Katakomben und Sarkophagen, der abendländische mit dem Dom, in welchem sich der Opfertod Jesu unter den Händen des Priesters täglich wiederholt. Aus der frühen Angst entspringt auch alles historische Empfinden, in der Antike durch Klammern an die lebenerfüllte Gegenwart, in der arabischen Welt aus der Taufe, die das Leben neu gewinnt und den Tod überwindet, in der faustischen aus der Buße, die den Leib Jesu zu empfangen würdigt und damit die Unsterblichkeit. Erst aus der stets wachen Sorge um das Leben, das
noch nicht
vergangen ist, entsteht die Sorge um das Vergangne. Ein Tier hat
nur
Zukunft, der Mensch kennt auch die Vergangenheit. Mit einer neuen »Weltanschauung«, das heißt einem plötzlichen Blick auf den Tod als dem Geheimnis der erschauten Welt, erwacht deshalb jede neue Kultur. Als um das Jahr 1000 der Gedanke an das Weltende sich im Abendland verbreitete, wurde die faustische Seele dieser Landschaft geboren.
Der Urmensch, in tiefem Staunen über den Tod, suchte diese Welt des Ausgedehnten mit den unerbittlichen und stets gegenwärtigen Schranken ihrer Kausalität, voll von dunkler Allmacht, die ihn ständig mit dem Ende bedrohte, mit allen Kräften seines Geistes zu durchdringen und zu beschwören. Diese triebhafte Abwehr liegt tief im unbewußten Dasein, aber indem sie Seele und Welt erst eigentlich schuf, zerdehnte, gegeneinander stellte, bezeichnete sie die Schwelle persönlicher Lebensführung. Ichgefühl und Weltgefühl beginnen zu wirken, und alle Kultur, innere wie äußere, Haltung wie Leistung, ist nur die Steigerung dieses Menschseins überhaupt. Von hier an ist alles, was unsern Empfindungen widersteht, nicht mehr nur »Widerstand«, Sache, Eindruck wie bei Tieren und auch noch beim Kinde, sondern auch Ausdruck. Die Dinge sind nicht nur wirklich innerhalb der Umwelt, sondern sie haben, so wie sie »erscheinen«, innerhalb der Welt anschauung« auch einen Sinn. Zuerst besaßen sie allein ein Verhältnis zum Menschen, jetzt besitzt der Mensch auch sein Verhältnis zu ihnen. Sie sind Sinnbilder seines Daseins geworden. So geht das Wesen aller echten – unbewußten und innerlich notwendigen – Symbolik aus dem Wissen des Todes hervor, in dem sich das Geheimnis des Raumes enthüllt. Alle Symbolik bedeutet eine Abwehr. Sie ist Ausdruck einer tiefen Scheu im alten Doppelsinn des Wortes: ihre Formensprache redet zugleich von Feindschaft und Ehrfurcht.
Alles Gewordne ist vergänglich. Vergänglich sind nicht nur Völker, Sprachen, Rassen, Kulturen. Es wird in wenigen Jahrhunderten keine westeuropäische Kultur, keinen Deutschen, Engländer, Franzosen mehr geben, wie es zur Zeit Justinians keinen Römer mehr gab. Nicht die Folge menschlicher Generationen war erloschen; die innere Form eines Volkes, die eine Anzahl von ihnen zu einheitlicher Gebärde zusammengefaßt hatte, war nicht mehr da. Der civis Romanus, eines der mächtigsten Symbole antiken Seins, war gleichwohl als Form nur von der Dauer einiger Jahrhunderte. Aber das Urphänomen der großen Kultur überhaupt wird einmal wieder verschwunden sein, und mit ihm das Schauspiel der Weltgeschichte, und endlich der Mensch selbst und darüber hinaus die Erscheinung des pflanzlichen und tierischen Lebens an der Erdoberfläche, die Erde, die Sonne und die ganze Welt der Sonnensysteme. Alle Kunst ist sterblich, nicht nur die einzelnen Werke, sondern die Künste selbst. Es wird eines Tages das letzte Bildnis Rembrandts und der letzte Takt Mozartscher Musik aufgehört haben
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