Der Untergang des Abendlandes
Schicksal abgehobenen, rein
verstandenen
Systemen, Formenwelten reiner Zahlen, deren Richtigkeit –
nicht Tatsächlichkeit
– zeitlos und von kausaler Logik ist wie alles nur Erkannte und nicht Erlebte.
Damit ist die Verschiedenheit der lebendigen Anschauung von der mathematischen Formensprache offenbar geworden, und das Geheimnis des Raumwerdens tut sich auf.
Wie das Werden dem Gewordnen, die unaufhörlich lebende Geschichte der vollendeten und toten Natur zugrunde liegt, das Organische dem Mechanischen, das Schicksal dem kausalen Gesetz, dem objektiv Gesetzten, so ist die Richtung der Ursprung der Ausdehnung. Das mit dem Worte Zeit berührte Geheimnis des sich vollendenden Lebens bildet die Grundlage dessen, was als vollendet durch das Wort Raum weniger verstanden als für ein inneres Gefühl angedeutet wird. Jede wirkliche Ausgedehntheit wird in und mit dem Erlebnis der Tiefe erst vollzogen; und eben jene Dehnung in die Tiefe und Ferne – zuerst für das Empfinden, vor allem das Auge, dann erst für das Denken –, der Schritt vom tiefenlosen Sinneneindruck zum makrokosmisch geordneten Weltbilde mit der geheimnisvoll in ihm sich andeutenden Bewegtheit ist das, was zunächst durch das Wort Zeit bezeichnet wird. Der Mensch empfindet sich, und das ist der Zustand wirklichen, auseinanderspannenden Wachseins, » in« einer ihn rings umgebenden Ausgedehntheit. Man braucht diesen Ureindruck des Weltmäßigen nur zu verfolgen, um zu sehen, daß es in Wirklichkeit nur eine wahre Dimension des Raumes gibt, die Richtung nämlich von sich aus in die Ferne, das Dort, die Zukunft, und daß das abstrakte System dreier Dimensionen eine mechanische Vorstellung, keine Tatsache des Lebens ist. Das Tiefenerlebnis dehnt die Empfindung zur Welt. Das Gerichtetsein des Lebens war mit Bedeutung als Nichtumkehrbarkeit bezeichnet worden und ein Rest dieses entscheidenden Merkmals der Zeit liegt in dem Zwang, auch die Tiefe der Welt stets von sich aus, nie vom Horizont aus zu sich hin empfinden zu können. Der bewegliche Leib aller Tiere und des Menschen ist auf diese Richtung hin angelegt. Man bewegt sich » vorwärts« – der Zukunft entgegen, mit jedem Schritt nicht nur dem Ziel, sondern auch dem Alter sich nähernd – und empfindet jeden Blick rückwärts auch als den Blick auf etwas Vergangnes, bereits zur Geschichte Gewordnes. [Erst von dieser Richtung in der Anlage des Leibes aus besinnt man sich auf den Unterschied von rechts und links, vgl. Bd. I, S. 218, Anm. »Vorn« hat für den Körper einer Pflanze gar keinen Sinn.]
Wenn man die Grundform des Verstandenen, die Kausalität, als erstarrtes Schicksal bezeichnet, so darf die Raumtiefe eine erstarrte Zeit genannt werden. Was nicht nur der Mensch, sondern schon das Tier als Schicksal um sich walten fühlt, empfindet es tastend, sehend, horchend, witternd als Bewegung, die vor der gespannten Aufmerksamkeit kausal erstarrt. Wir fühlen: es geht dem Frühling entgegen, und wir fühlen im voraus, wie die Frühlingslandschaft sich rings um uns dehnt; aber wir wissen, daß sich die Erde im Weltraum drehend bewegt und daß die Frühlingsdauer neunzig solcher Erddrehungen – Tage – »beträgt«. Die Zeit gebiert den Raum, der Raum aber tötet die Zeit.
Hätte Kant sich schärfer gefaßt, so hätte er, statt von »zwei Formen der Anschauung« zu reden, die Zeit die Form des Anschauens, den Raum die Form des Angeschauten genannt, und dann hätte sich ihm der Zusammenhang beider vielleicht offenbart. Der Logiker, Mathematiker und Naturforscher kennt in den Augenblicken gespannten Nachdenkens nur den gewordenen, vom einmaligen Geschehen eben durch das Nachdenken darüber abgelösten, wahren, systematischen Raum, in welchem alles die Eigenschaft einer mathematisch bestimmbaren »Dauer« besitzt. Hier aber wurde angedeutet, wie der Raum unaufhörlich wird. Solange wir sinnend ins Weite blicken, webt es ringsumher. Werden wir aufgeschreckt, so spannt sich vor scharfen Augen ein fester Raum aus. Dieser Raum ist; er steht damit, daß er ist, außerhalb der Zeit, von ihr und damit vom Leben abgelöst. In ihm herrscht die Dauer, ein Stück abgestorbener Zeit, als erkannte Eigenschaft von Dingen; und da wir uns selbst als seiend in diesem Raum erkennen, so wissen wir um unsre Dauer und deren Grenzen, an die der Zeiger unsrer Uhren unaufhörlich mahnt. Der starre Raum selbst aber, der ebenfalls vergänglich ist und mit jedem Nachlassen des geistigen Gespanntseins aus dem farbigen Dehnen
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