Der Untergang des Abendlandes
weshalb die »Mitleidsmoral« im Alltagssinne unter uns immer mit Achtung genannt, zuweilen von Denkern angefochten, zuweilen gewünscht, aber niemals verwirklicht worden ist. Kant hat sie mit Entschiedenheit abgelehnt. In der Tat steht sie im innersten Widerspruch zum kategorischen Imperativ, der den Sinn des Lebens in der Tat, nicht im Nachgeben weichen Stimmungen gegenüber sieht. Nietzsches »Sklavenmoral« ist ein Phantom.
Seine Herrenmoral ist eine Realität.
Sie brauchte nicht erst entworfen zu werden; sie war längst vorhanden. Nimmt man die romantische Borgiamaske hinweg und jene nebelhaften Visionen vom Übermenschen, so bleibt der faustische Mensch selbst übrig, wie er heute da ist und zur Zeit der isländischen Sagas bereits da war, als Typus einer energischen, imperativischen, dynamischen Kultur. Mag es in der Antike gewesen sein wie es will;
unsere
großen Wohltäter sind die großen
Täter
, deren Vor- und Fürsorge Millionen gilt, die großen Staatsmänner und Organisatoren. »Eine höhere Art Menschen, welche sich, dank ihrem Übergewicht von Wollen, Wissen, Reichtum und Einfluß, des demokratischen Europas bedienen als ihres gefügigsten und beweglichsten Werkzeuges, um die Schicksale der Erde in die Hand zu bekommen, um am ¸Menschen' selbst als Künstler zu gestalten. Genug, die Zeit kommt, da man über Politik umlernen wird.« So heißt es in einer der Nachlaßaufzeichnungen Nietzsches, die viel konkreter sind als die ausgeführten Werke. »Wir müssen entweder politische Fähigkeiten züchten oder durch die Demokratie zugrunde gehen, die uns die mißglückten älteren Alternativen aufgezwungen haben«, heißt es bei Shaw (»Mensch und Übermensch«). Shaw, der vor Nietzsche die praktische Schulung und den geringeren Grad von Ideologie voraus hat, so beschränkt sein philosophischer Horizont sonst erscheint, hat in »Major Barbara« in der Gestalt des Milliardärs Undershaft das Übermenschenideal in die unromantische Sprache der neuern Zeit übertragen, aus der es, auf dem Umweg über Malthus und Darwin, auch bei Nietzsche wirklich stammt. Diese Tatsachenmenschen großen Stils sind es, welche heute den Willen zur Macht über das Los der andern und damit die faustische Ethik überhaupt repräsentieren. Menschen dieser Art werfen ihre Millionen nicht zur Befriedigung eines uferlosen Wohltuns hinaus für die Träumer, »Künstler«, Schwachen, Schlechtweggekommenen; sie verwenden sie für die, welche als Material für die Zukunft mitzählen. Sie verfolgen mit ihnen ein Ziel. Sie schaffen eine Kraftmitte für das Dasein von Generationen, welche die Grenzen des persönlichen Daseins überdauert. Auch das Geld kann Ideen entwickeln und Geschichte machen. So hat Rhodes, in dem sich ein sehr bedeutungsvoller Typus des 21. Jahrhunderts ankündigt, sein Vermögen testamentarisch angelegt. Es ist flach und beweist die Unfähigkeit, Geschichte innerlich zu begreifen, wenn man das literarische Geschwätz populärer Sozialethiker und Humanitätsapostel nicht von den tiefen ethischen Instinkten der westeuropäischen Zivilisation zu unterscheiden weiß.
Der Sozialismus – in seinem höchsten Sinne, nicht in dem der Gasse – ist wie alles Faustische ein exklusives Ideal, das seine Volkstümlichkeit nur einem vollkommenen Mißverständnis auch unter den Wortführern verdankt, daß er nämlich ein Inbegriff von Rechten, nicht von Pflichten, daß er eine Beseitigung, nicht eine Verschärfung des kantischen Imperativs, ein Nachlassen, nicht ein Höherspannen der Richtungsenergie sei. Jene triviale Oberflächentendenz auf Wohlfahrt, »Freiheit«, Humanität, das Glück der Meisten enthält nur das Negative der faustischen Ethik, sehr im Gegensatz zum antiken Epikuräismus, dem der glückselige Zustand wirklich Kern und Summe alles Ethischen war. Gerade hier liegen äußerlich sehr verwandte Stimmungen vor, die im einen Falle nichts, im andern alles bedeuten. Man kann aus diesem Gesichtspunkt den Inhalt der antiken Ethik ebenfalls als Philanthropie bezeichnen, die der einzelne sich selbst, seinem
soma
, angedeihen läßt. Hier hat man die Autorität des Aristoteles auf seiner Seite, der genau in diesem Sinne das Wort φιλάνθρωπος gebraucht, an dem sich die besten Köpfe der klassizistischen Zeit, Lessing vor allem, abgemüht haben. Aristoteles bezeichnet die Wirkung der attischen Tragödie auf den attischen Zuschauer als philantropisch. Ihre Peripetie erlöst ihn vom Mitleid mit sich selbst. Eine Art
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