Der Untergang des Abendlandes
sein. Das Wesen aller Kultur ist Religion;
folglich ist das Wesen aller Zivilisation Irreligion
. Auch das sind zwei Worte für ein und dieselbe Erscheinung. Wer das nicht im Schaffen Manets gegen Velasquez, Wagners gegen Haydn, Lysippos gegen Phidias, Theokrits gegen Pindar herausfühlt, der weiß nichts vom Besten der Kunst. Religiös ist noch die Baukunst des Rokoko selbst in ihren weltlichsten Schöpfungen. Irreligiös sind die Römerbauten, auch die Tempel der Götter. Mit dem Pantheon, jener Urmoschee mit dem eindringlich magischen Gottgefühl ihres Innenraums, ist das einzige Stück echt religiöser Baukunst in das alte Rom geraten. Die Weltstädte selbst sind den alten Kulturstädten gegenüber, Alexandria gegen Athen, Paris gegen Brügge, Berlin gegen Nürnberg, in allen Einzelheiten bis in das Straßenbild, die Sprache, den trocken intelligenten Zug der Gesichter [Man beachte die auffallende Ähnlichkeit vieler Römerköpfe mit denen heutiger Tatsachenmenschen amerikanischen Stils und, wenn auch nicht so deutlich, mit manchen ägyptischen Porträtköpfen des Neuen Reichs. Vgl. Bd. II, S. 677f.] hinein irreligiös (was man nicht mit antireligiös zu verwechseln hat). Und irreligiös, seelenlos sind demnach auch diese ethischen Weltstimmungen, die durchaus zur Formensprache der Weltstädte gehören. Der Sozialismus ist das irreligiös gewordene faustische Lebensgefühl; das besagt auch das vermeintliche (»wahre«) Christentum, das der englische Sozialist so gern im Munde führt und unter dem er etwas wie eine »dogmenlose Moral« versteht. Irreligiös sind Stoizismus und Buddhismus im Verhältnis zur orphischen und vedischen Religion, und es ist ganz Nebensache, ob der römische Stoiker den Kaiserkult billigt und ausübt, der spätere Buddhist seinen Atheismus mit Überzeugung bestreitet, der Sozialist sich freireligiös nennt oder auch »weiterhin an Gott glaubt«.
Dies Erlöschen der lebendigen inneren Religiosität, das allmählich auch den unbedeutendsten Zug des Daseins gestaltet und erfüllt, ist es, was im historischen Weltbild als die Wendung der Kultur zur Zivilisation erscheint, als das
Klimakterium der Kultur,
wie ich es früher nannte, als die Zeitwende, wo die seelische Fruchtbarkeit einer Art von Mensch für immer erschöpft ist und die Konstruktion an Stelle der Zeugung tritt. Faßt man das Wort Unfruchtbarkeit in seiner ganzen ursprünglichen Schwere, so bezeichnet es das volle Schicksal des weltstädtischen Gehirnmenschen, und es gehört zum Bedeutsamsten der geschichtlichen Symbolik, daß diese Wendung sich nicht nur im Erlöschen der großen Kunst, der gesellschaftlichen Formen, der großen Denksysteme, des großen Stils überhaupt, sondern auch ganz körperlich in der Kinderlosigkeit und dem Rassetod der zivilisierten, vom Lande abgelösten Schichten ausspricht, eine Erscheinung, die in der römischen und chinesischen Kaiserzeit viel bemerkt und beklagt, aber notwendigerweise nicht gemildert worden ist. [Vgl. Bd. II, S. 678 ff.]
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Angesichts dieser neuen, rein geistigen Bildungen darf man über ihren lebendigen Träger nicht im Zweifel sein, den »neuen Menschen«, als der er hoffnungsvoll von allen Niedergangszeiten empfunden worden ist. Es ist der formlos durch alle Großstädte flutende Pöbel an Stelle des Volkes, die wurzellose städtische Masse, οι πολλοί, wie man in Athen sagte, an Stelle des mit der Natur verwachsenen, selbst auf dem Boden der Städte noch bäuerlichen Menschentums einer Kulturlandschaft. Es ist der Agorabesucher Alexandrias und Roms und sein »Zeitgenosse«, der moderne Zeitungsleser; es ist der »Gebildete«, jener Anhänger eines Kultus des geistigen Mittelmaßes und der Öffentlichkeit als Kultstätte, damals wie heute; es ist der antike und abendländische Mensch der Theater und Vergnügungsorte, des Sports und der Literatur des Tages. Diese spät erscheinende Masse und
nicht
»die Menschheit« ist Objekt der stoischen und sozialistischen Propaganda, und man könnte ihr gleichbedeutende Erscheinungen des ägyptischen Neuen Reiches, des buddhistischen Indien, des konfuzianischen China zur Seite stellen.
Dem entspricht eine charakteristische Form der öffentlichen Wirksamkeit, die
Diatribe.
[P. Wendland, Die hellenist.-röm. Kultur (1912), S. 75 ff.] Zuerst als hellenistische Erscheinung beobachtet, gehört sie zu den Wirkungsformen
jeder
Zivilisation. Durch und durch dialektisch, praktisch, plebejisch, ersetzt sie die bedeutsame, weithin wirkende
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