Der Untergang des Abendlandes
»neue Werte«, »Übermensch«, »Sinn der Erde« und hütet oder fürchtet sich, das genauer zu fassen. Shaw tut es. Nietzsche bemerkt, daß die darwinistische Idee des Übermenschen den Begriff der Züchtung heraufruft, aber er bleibt bei dem klangvollen Ausdruck stehen. Shaw fragt weiter – denn es hat keinen Zweck, darüber zu reden, wenn man nichts
tun
will –, wie das zu geschehen hat, und er kommt dazu, die Verwandlung der Menschheit in ein Gestüt zu verlangen. Aber das ist lediglich die Konsequenz Zarathustras, zu der er selbst nur nicht den Mut, sei es auch den Mut der Geschmacklosigkeit, hatte. Wenn man von planmäßiger Züchtung redet, einem vollkommen materialistischen und utilitarischen Begriff, so ist man eine Antwort darauf schuldig, wer zu züchten hat, wen, wo und wie. Allein Nietzsches romantische Abneigung, die sehr prosaischen sozialen Folgerungen zu ziehen, seine Furcht, poetische Gedanken durch Gegenüberstellung mit nüchternen Tatsachen einer Kraftprobe auszusetzen, ließen ihn darüber schweigen, daß seine ganze Lehre, wie sie aus dem Darwinismus stammt, auch den Sozialismus, und zwar den sozialistischen
Zwang
als
Mittel
voraussetzt; daß jeder systematischen Züchtung einer Klasse höherer Menschen eine streng sozialistische Gesellschaftsordnung voraufgehen muß und daß diese »dionysische« Idee, da es sich um eine
gemeinsame
Aktion und nicht um eine Privatsache abseits lebender Denker handelt, demokratisch ist, mag man sie wenden, wie man will. Damit hat die ethische Dynamik des »Du sollst« ihren Gipfel erreicht: um der Welt die Form seines Willens aufzuerlegen, opfert der faustische Mensch sich selbst. Die Züchtung des Übermenschen folgt aus dem Begriff der Zucht
wahl
. Nietzsche war, seit er Aphorismen schrieb, unbewußt ein Schüler Darwins, aber Darwin selbst hatte den Entwicklungsgedanken des 18. Jahrhunderts durch nationalökonomische Tendenzen umgeprägt, die er von seinem Lehrer Malthus nahm und in das höhere Tierreich projizierte. Malthus hatte die Fabrikindustrie von Lancaster studiert, und man findet das ganze System, statt auf Tiere auf Menschen angewendet, schon in Buckles Geschichte der englischen Zivilisation (1857).
Und so stammt die »Herrenmoral« dieses letzten Romantikers auf einem merkwürdigen, aber für den Sinn der Zeit bezeichnenden Wege aus der Quelle aller geistigen Modernität, der Atmosphäre der englischen Maschinenindustrie. Der Macchiavellismus, den Nietzsche als Renaissance-Erscheinung pries und dessen Verwandtschaft mit Darwins Begriff der
mimicry
man nicht übersehen sollte, war tatsächlich der im »Kapital« von Marx – dem andern berühmten Jünger von Malthus – behandelte, und die Vorstufe dieses seit 1867 erscheinenden Grundbuches des politischen (nicht des ethischen) Sozialismus, die Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, erschien gleichzeitig mit Darwins Hauptwerk. Das ist die Genealogie der Herrenmoral. Der »Wille zur Macht«, ins Reale, Politische, Nationalökonomische übersetzt, findet seinen stärksten Ausdruck in Shaws »Major Barbara«. Sicherlich ist Nietzsche als Persönlichkeit der Gipfel dieser Reihe von Ethikern, aber hier reicht Shaw, der Parteipolitiker, als Denker an ihn heran. Der Wille zur Macht ist heute durch die beiden Pole des öffentlichen Lebens, die Arbeiterklasse und die großen Geld- und Gehirnmenschen, viel entschiedener vertreten als je durch einen Borgia. Der Milliardär Undershaft in dieser besten Komödie Shaws
ist
Übermensch. Nur hätte Nietzsche, der Romantiker, sein Ideal nicht wiedererkannt. Er sprach stets von einer Umwertung aller Werte, von einer Philosophie der Zukunft, also doch zunächst der westeuropäischen und nicht chinesischen oder afrikanischen Zukunft, aber wenn seine immer in dionysischer Ferne verschwimmenden Gedanken sich wirklich einmal zu greifbaren Gebilden verdichteten, so erschien ihm der Wille zur Macht unter dem Bilde von Dolch und Gift und nicht von Streiks und der Energie des Geldes. Trotzdem hat er erzählt, daß die Idee ihm zuerst im Kriege von 1870 und beim Anblick preußischer Regimenter, die zur Schlacht marschierten, aufgegangen sei.
Das Drama dieser Epoche ist nicht mehr Dichtung im alten, im Kultursinne, sondern eine Form der Agitation, Debatte und Beweisführung: die Schaubühne wurde durchaus »als moralische Anstalt« betrachtet. Selbst Nietzsche neigte wiederholt zu dramatischer Fassung seiner Gedanken. Richard Wagner hat in seiner
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