Der Untergang des Abendlandes
Nibelungendichtung, vor allem in der frühesten Fassung um 1850, seine sozialrevolutionären Ideen niedergelegt, und Siegfried ist auf dem Umweg über künstlerische und außerkünstlerische Einwirkungen noch im vollendeten »Ring« ein Sinnbild des vierten Standes, der Fafnirhort eines des Kapitalismus, Brünhilde das des »freien Weibes« geblieben. Die Musik zur geschlechtlichen Zuchtwahl, deren Theorie, die »Abstammung der Arten«, 1859 erschien, findet sich eben damals im dritten Akte des Siegfried und im Tristan. Es ist kein Zufall, daß Wagner, Hebbel und Ibsen beinahe gleichzeitig die Dramatisierung des Nibelungenstoffes unternahmen. Hebbel, als er in Paris Schriften von Friedrich Engels kennenlernt, drückt sein Erstaunen darüber aus (Brief vom 2. April 1844), daß er das soziale Prinzip der Zeit, wie er es eben damals in einem Drama »Zu irgend einer Zeit« darstellen wollte, ganz ebenso aufgefaßt habe wie der Verfasser des kommunistischen Manifestes, und bei seiner ersten Bekanntschaft mit Schopenhauer (Brief vom 29. März 1857) überrascht ihn auch die Verwandtschaft der »Welt als Wille und Vorstellung« mit wichtigen Tendenzen, die er seinem Holofernes und »Herodes und Mariamne« zugrunde gelegt hatte. Hebbels Tagebücher, deren wichtigster Teil zwischen 1835 und 1845 niedergeschrieben wurde, sind eine der tiefsten philosophischen Leistungen des Jahrhunderts, ohne daß er sich dessen bewußt gewesen wäre. Man würde nicht erstaunt sein, ganze Sätze von ihm wörtlich bei Nietzsche zu finden, der ihn nie gekannt und nicht immer erreicht hat.
Ich gebe hier eine Übersicht über die
wirkliche
Philosophie des 19. Jahrhunderts, deren einziges und eigenstes Thema der Wille zur Macht in einer zivilisiert-intellektuellen, ethischen oder sozialen Gestalt, als Wille zum Leben, als Lebenskraft, als praktisch-dynamisches Prinzip, als Begriff oder dramatische Gestalt ist. Die mit Shaw
abgeschlossene
Periode entspricht der antiken zwischen 350 und 250. Der Rest ist, mit Schopenhauer zu reden, Professorenphilosophie von Philosophieprofessoren.
1819 Schopenhauer, »Die Welt als Wille und Vorstellung«: der Wille zum Leben zum ersten Mal als einzige Realität (»Urkraft«) in den Mittelpunkt gestellt, aber noch unter dem Eindruck des voraufgegangenen Idealismus zur Verneinung empfohlen.
1836 Schopenhauer, »Über den Willen in der Natur«: Antizipation des Darwinismus, aber metaphysisch verkleidet.
1840 Proudhon, »Qu'est-ce que la propriété?«: Grundlage des Anarchismus. – Comte, »Cours de philosophie positive«: die Formel »ordre et progrès«.
1841 Hebbel, »Judith«: erste dramatische Konzeption des »neuen Weibes« und des Übermenschen (Holofernes). – Feuerbach, »Wesen des Christentums«.
1844 Engels, »Umriß einer Kritik der Nationalökonomie«: Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung. – Hebbel, »Maria Magdalena«: das erste soziale Drama.
1847 Marx, »Misère de la Philosophie« (Synthese von Hegel und Malthus). Diese Jahre sind die entscheidende Epoche, mit welcher die Nationalökonomie die Sozialethik und Biologie zu beherrschen beginnt.
1848 Wagner, »Siegfrieds Tod«: Siegfried als sozialethischer Revolutionär, der Fafnirhort als Symbol des Kapitalismus.
1850 Wagner, »Kunst und Klima«: das Sexualproblem.
1850-58 Wagners, Hebbels und Ibsens Nibelungendichtungen.
1859 ein symbolisches Zusammentreffen: Darwin, »Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl« (Anwendung der Nationalökonomie auf die Biologie) und Wagner, »Tristan und Isolde«. – Marx, »Zur Kritik der politischen Ökonomie«.
1863 J. St. Mill, »Utilitarianism«.
1865 Dühring, »Wert des Lebens«, selten genannt, aber von höchstem Einfluß auf die nächste Generation.
1867 Ibsen, »Brand« und »Das Kapital« von Marx.
1878 Wagner, »Parsifal«: erste Auflösung des Materialismus in Mystizismus.
1879 Ibsen, »Nora«.
1881 Nietzsche, »Morgenröte«: Übergang von Schopenhauer zu Darwin, die Moral als biologisches Phänomen.
1883 Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«: der Wille zur Macht, aber romantisch verkleidet.
1886 Ibsen, »Rosmersholm« (die »Adelsmenschen«) und Nietzsche, »Jenseits von Gut und Böse«.
1887/88 Strindberg, »Vater« und »Fräulein Julie«.
1890 der nahende Abschluß der Epoche: die religiösen Werke Strindbergs, die symbolistischen Ibsens.
1896 Ibsen, »John Gabriel Borkman«: der Übermensch.
1898 Strindberg, »Nach Damaskus«.
Seit 1900 die letzten
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