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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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Erscheinungen.
    1903 Weininger, »Geschlecht und Charakter«: der einzige ernste Versuch, Kant durch Beziehung auf Wagner und Ibsen innerhalb dieser Epoche wiederzubeleben.
    1903 Shaw, »Mensch und Übermensch«: letzte Synthese von Darwin und Nietzsche.
    1905 Shaw, »Major Barbara«: der Typus des Übermenschen auf seinen wirtschaftspolitischen Ursprung zurückgeführt.
    Damit hat sich, nach der metaphysischen Periode, auch die ethische erschöpft. Der ethische Sozialismus, von Fichte, Hegel, Humboldt vorbereitet, hatte die Zeit seiner leidenschaftlichen Größe um die Mitte des 19. Jahrhunderts. An dessen Ende war er bereits im Stadium der Wiederholungen angelangt, und das 20. Jahrhundert hat unter Beibehaltung des
Wortes
Sozialismus, an Stelle einer ethischen Philosophie, die nur Epigonen als unvollendet erscheint, eine Praxis wirtschaftlicher Tagesfragen gesetzt. Die ethische Weltstimmung des Abendlandes wird eine »sozialistische« bleiben, aber ihre Theorie hat aufgehört, Problem zu sein. Es besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe westeuropäischer Philosophie: die eines physiognomischen Skeptizismus. Das Geheimnis der Welt erscheint nacheinander als Erkenntnisproblem, Wertproblem, Formproblem. Kant sah die Ethik als Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert sah die Erkenntnis als Gegenstand einer Wertung. Der Skeptiker würde
beides
lediglich als historischen Ausdruck einer Kultur betrachten.
     

Sechstes Kapitel: Faustische und Apollinische Naturerkenntnis
1
    In einer berühmt gewordnen Rede sagte Helmholtz 1869: »Das Endziel der Naturwissenschaft ist, die allen Veränderungen zugrunde liegenden Bewegungen und deren Triebkräfte zu finden, also sich in Mechanik aufzulösen.« In Mechanik, das bedeutet die Zurückführung aller qualitativen Eindrücke auf unveränderliche quantitative Grundwerte, auf
Ausgedehntes
also und dessen
Ortsveränderung
; das bedeutet weiterhin, wenn man sich des Gegensatzes von Werden und Gewordnem, Erlebtem und Erkanntem, von Gestalt und Gesetz, Bild und Begriff erinnert, die Zurückführung des gesehenen Natur
bildes
auf das vorgestellte Bild einer einheitlichen, zahlenmäßigen Ordnung von meßbarer Struktur. Die eigentliche Tendenz aller abendländischen Mechanik geht auf eine geistige
Besitzergreifung durch Messung
; sie ist deshalb genötigt, das Wesen der Erscheinung in einem System konstanter, der Messung restlos zugänglicher Elemente zu suchen, deren wichtigstes nach der Definition von Helmholtz mit dem – der täglichen
Lebens
erfahrung entnommenen – Worte
Bewegung
bezeichnet wird.
    Dem Physiker erscheint diese Definition unzweideutig und erschöpfend; dem Skeptiker, der die Psychologie dieser wissenschaftlichen Überzeugung verfolgt, nichts weniger als das. Dem einen ist die gegenwärtige Mechanik ein folgerichtiges System von klaren eindeutigen Begriffen und ebenso einfachen wie notwendigen Beziehungen, dem andern ist sie ein die Struktur des westeuropäischen Geistes kennzeichnendes
Bild
, allerdings von höchster Konsequenz des Aufbaus und stärkster Überzeugungskraft. Daß durch alle
praktischen
Erfolge und Entdeckungen nichts für die »
Wahr
heit« der
Theorie
, des
Bildes
bewiesen wird, versteht sich von selbst. [Vgl. Bd. II, S. 1184, und F. Lenard, Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation (1920), S. 20 ff.] Den meisten erscheint »die« Mechanik allerdings als die selbstverständliche Fassung von Natureindrücken, aber sie scheint es nur. Denn was ist Bewegung? Daß alles Qualitative auf die Bewegung unveränderlicher, gleichartiger Massenpunkte zurückführbar sei – ist das nicht schon ein rein faustisches, kein allgemein menschliches Postulat? Archimedes z. B. fühlte durchaus nicht das Bedürfnis, mechanische Einsichten in die Vorstellung von Bewegungen umzudenken. Ist Bewegung überhaupt eine rein mechanische Größe? Ist sie ein Wort für eine Erfahrung des Auges oder ein davon abgezogener Begriff? Bezeichnet sie die Zahl, welche durch Messung experimentell hervorgerufener Tatsachen ermittelt worden ist, oder das ihr unterlegte Bild? Und wenn es der Physik wirklich eines Tages gelänge, ihr vermeidliches Ziel zu erreichen und alles sinnlich Erfaßbare in ein lückenloses System gesetzmäßig fixierter »Bewegungen« und der hinter ihnen als wirkend vorgestellten Kräfte zu bringen, wäre sie damit im »Erkennen« dessen, was vorgeht, auch nur um einen Schritt vorwärts gekommen? Ist die Formensprache der Mechanik darum weniger

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