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Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
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dogmatisch? Enthält sie nicht vielmehr den Mythos der Urworte, welche die Erfahrung gestalten statt aus ihr hervorzugehen, gerade in seiner schärfsten Fassung? Was ist Kraft? Was ist eine Ursache? Was ist ein Prozeß? Ja – hat die Physik überhaupt, selbst auf Grund ihrer eigenen Definitionen, eine eigentliche Aufgabe? Besitzt sie ein durch alle Jahrhunderte gültiges Endziel? Besitzt sie, um ihre Resultate auszusprechen, auch nur eine unanfechtbare Gedankengröße?
    Die Antwort kann vorweggenommen werden. Die heutige Physik, als Wissenschaft ein ungeheures System von
Kennzeichen
in Gestalt von Namen und Zahlen, das es gestattet, mit der Natur wie mit einer Maschine zu arbeiten, [ Vgl. Bd. II, S. 928, 1183 f.] mag ein genau bestimmbares Endziel haben; als ein Stück
Geschichte
mit allen Schicksalen und Zufällen im Leben der beteiligten Personen und im Gang des Forschens selbst ist die Physik nach Aufgabe, Methode und Resultat Ausdruck und Verwirklichung einer Kultur, ein organisch sich entwickelnder Zug ihres Wesens, jedes ihrer Ergebnisse ein Symbol. Was die Physik, die ja lediglich im Wachsein lebender Kulturmenschen vorhanden ist, durch diese zu finden vermeint, lag der Art und Weise ihres Suchens schon zugrunde. Ihre Entdeckungen sind dem bildhaften Gehalt nach, außerhalb der Formeln, selbst im Kopf so vorsichtiger Forscher, wie es J. R. Mayer, Faraday und Hertz waren, rein mythischer Natur. Angesichts aller physikalischen Exaktheit unterscheide man in jedem Naturgesetz wohl zwischen unbenannten Zahlen und deren Benennung, zwischen einer bloßen Grenzsetzung [Vgl. Bd. I, S. 76.] und deren theoretischer Deutung. Die Formeln stellen allgemein logische Werte dar, reine Zahlen, objektive Raum- und Grenzelemente also, aber Formeln sind stumm. Der Ausdruck s = ½gt2 bedeutet gar nichts, solange man bei den Buchstaben nicht an bestimmte Worte und deren Bildsinn zu denken vermag. Kleide ich die toten Zeichen aber in solche Worte, gebe ich ihnen Fleisch, Körper, Leben, eine sinnliche Weltbedeutung überhaupt, so habe ich die Schranken einer
bloßen Ordnung
überschritten. Θεωρία heißt Bild, Vision. Erst sie macht aus einer mathematischen Formel ein wirkliches Naturgesetz. Alles Exakte an sich ist
sinnlos
; jede physikalische Beobachtung ist so beschaffen, daß ihr Ergebnis etwas
beweist
nur unter der Voraussetzung einer Anzahl von bildhaften Annahmen, die von nun an überzeugender wirken. Abgesehen davon besteht das Ergebnis nur aus leeren Ziffern. Aber wir können von solchen Annahmen gar nicht absehen. Selbst wenn ein Forscher alle ihm als solche bewußten Hypothesen beiseite setzt, so kann er doch, sobald er
denkend
an diese Aufgabe herantritt, die unbewußte Form dieses Denkens nicht beherrschen – sie beherrscht ihn! –, da er stets als Mensch einer Kultur, eines Zeitalters, einer Schule voller Tradition lebend tätig ist. Glaube und »Erkenntnis« sind nur zwei Arten von innerer Gewißheit, aber der Glaube ist älter und meistert alle Bedingungen eines noch so exakten Wissens. Und eben die Theorien, nicht die reinen Zahlen sind die Träger aller Naturerkenntnis. Die unbewußte Sehnsucht jeder echten Wissenschaft, die – es sei noch einmal gesagt – lediglich im Geiste von Kulturmenschen vorhanden ist, richtet sich auf das Begreifen, das Durchdringen und Umfassen des Weltbildes der Natur, nicht auf die messende Tätigkeit an sich, die immer nur eine Freude unbedeutender Köpfe gewesen ist. Zahlen sollten stets nur der Schlüssel zum Geheimnis sein. Um der Zahlen selbst willen hätte kein bedeutender Mensch jemals Opfer gebracht.
    Zwar sagt Kant an einer bekannten Stelle: »Ich behaupte, daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.« Gemeint ist die reine Grenzsetzung in der Sphäre des Gewordnen, insofern sie als Gesetz, Formel, Zahl, System erscheint, aber ein Gesetz ohne Worte, eine Zahlenreihe als bloße Ablesung der Angaben von Meßinstrumenten ist als geistige Handlung in vollkommener Reinheit nicht einmal vorstellbar. Jedes Experiment, jede Methode, jede Beobachtung wächst aus einer mehr als mathematischen Gesamtanschauung hervor. Jede gelehrte Erfahrung ist, sie mag sonst sein was sie will, auch ein Zeugnis symbolischer Vorstellungs
arten
. Alle in Worte gefaßten Gesetze sind belebte, durchseelte Ordnungen, vom innersten Gehalt einer und nur einer Kultur erfüllt. Will man von

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