Der Untergang des Abendlandes
von der Vogelperspektive zur Froschperspektive herabgekommen. Es handelt sich um nichts Geringeres als um die Frage, ob eine echte Philosophie heute oder morgen überhaupt
möglich
ist. Im andern Fall wäre es besser, Pflanzer oder Ingenieur zu werden, irgend etwas Wahres und Wirkliches, statt verbrauchte Themen unter dem Vorwande eines »neuerlichen Aufschwungs des philosophischen Denkens« wiederzukäuen, und lieber einen Flugmotor zu konstruieren als eine neue und ebenso überflüssige Theorie der Apperzeption. Es ist wahrhaftig ein armseliger Lebensinhalt, die Ansichten über den Begriff des Willens und den psychophysischen Parallelismus noch einmal und etwas anders zu formulieren, als es hundert Vorgänger getan haben. Das mag ein »Beruf« sein, Philosophie ist es nicht. Was nicht das ganze Leben einer Zeit bis in die tiefsten Tiefen ergreift und verändert, sollte verschwiegen bleiben. Und was schon gestern möglich war, ist heute zum mindesten nicht mehr notwendig.
Ich liebe die Tiefe und Feinheit mathematischer und physikalischer Theorien, denen gegenüber der Ästhetiker und Physiolog ein Stümper ist. Für die prachtvoll klaren, hochintellektuellen Formen eines Schnelldampfers, eines Stahlwerkes, einer Präzisionsmaschine, die Subtilität und Eleganz gewisser chemischer und optischer Verfahren gebe ich den ganzen Stilplunder des heutigen Kunstgewerbes samt Malerei und Architektur hin. Ich ziehe einen römischen Aquädukt allen römischen Tempeln und Statuen vor. Ich liebe das Kolosseum und die Riesengewölbe des Palatin, weil sie heute mit der braunen Masse ihrer Ziegelkonstruktion das
echte
Römertum, den großartigen Tatsachensinn ihrer Ingenieure vor Augen stellen. Sie würden mir gleichgültig sein, wenn der leere und anmaßende Marmorprunk der Cäsaren mit seinen Statuenreihen, Friesen und überladenen Architraven noch erhalten wäre. Man werfe einen Blick auf eine Rekonstruktion der Kaiserfora: man wird das getreue Seitenstück moderner Weltausstellungen finden, aufdringlich, massenhaft, leer, ein dem perikleischen Griechen wie dem Menschen des Rokoko ganz fremdes Prahlen mit Material und Dimensionen, wie es aber ganz ebenso die Ruinen von Luxor und Karnak aus der Zeit Ramses'+II., der ägyptischen Modernität von 1300 v. Chr. zeigen. Nicht umsonst verachtete der echte Römer den
Graeculus histrio
, den »Künstler«, den »Philosophen« auf dem Boden römischer Zivilisation. Künste und Philosophie gehörten nicht mehr in diese Zeit; sie waren erschöpft, verbraucht, überflüssig. Das sagte ihm sein Instinkt für die Realitäten des Lebens. Ein römisches Gesetz wog schwerer als alle damalige Lyrik und Metaphysik der Schulen. Und ich behaupte, daß heute ein besserer Philosoph in manchem Erfinder, Diplomaten und Finanzmann steckt als in allen denen, welche das platte Handwerk der experimentellen Psychologie treiben. Das ist eine Lage, wie sie auf einer gewissen historischen Stufe immer wieder eintritt. Es wäre sinnlos gewesen, wenn ein Römer von geistigem Range, statt als Konsul oder Prätor ein Heer zu führen, eine Provinz zu organisieren, Städte und Straßen zu bauen oder in Rom »der erste zu sein«, in Athen oder Rhodos irgendeine neue Abart der nachplatonischen Kathederphilosophie hätte aushecken wollen. Natürlich hat es auch keiner getan. Das lag nicht in der Richtung der Zeit und konnte also nur Menschen dritten Ranges reizen, die immer gerade bis zu dem Zeitgeist von vorgestern vordringen. Es ist eine sehr ernste Frage, ob dies Stadium für uns bereits eingetreten ist oder noch nicht.
Ein Jahrhundert rein extensiver Wirksamkeit unter Ausschluß hoher künstlerischer und metaphysischer Produktion – sagen wir kurz ein irreligiöses Zeitalter, was sich mit dem Begriff des Weltstädtischen durchaus deckt – ist eine Zeit des Niedergangs. Gewiß. Aber wir haben diese Zeit nicht
gewählt
. Wir können es nicht ändern, daß wir als Menschen des beginnenden Winters der vollen Zivilisation und nicht auf der Sonnenhöhe einer reifen Kultur zur Zeit des Phidias oder Mozart geboren sind. Es hängt alles davon ab, daß man sich diese Lage, dies
Schicksal
klar macht und begreift, daß man sich darüber belügen, aber nicht hinwegsetzen kann. Wer sich dies nicht eingesteht, zählt unter den Menschen seiner Generation nicht mit. Er bleibt ein Narr, ein Charlatan oder ein Pedant.
Bevor man heute an ein Problem herantritt, hat man sich also zu fragen – eine Frage, die schon vom Instinkt der
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