Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Untergang des Abendlandes

Der Untergang des Abendlandes

Titel: Der Untergang des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oswald Spengler
Vom Netzwerk:
wirklich Berufenen beantwortet wird –, was einem Menschen dieser Tage möglich ist und was er sich verbieten muß. Es ist immer nur eine ganz kleine Anzahl metaphysischer Aufgaben, deren Lösung einer Epoche des Denkens vorbehalten ist. Und es hegt bereits wieder eine ganze Welt zwischen der Zeit Nietzsches, in der noch ein letzter Zug von Romantik wirksam war, und der Gegenwart, die von aller Romantik endgültig geschieden ist.
    Die systematische Philosophie war mit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts vollendet. Kant hatte ihre äußersten Möglichkeiten in eine große und – für den westeuropäischen Geist – vielfach endgültige Form gebracht. Ihr folgt wie auf Plato und Aristoteles eine spezifisch großstädtische, nicht spekulative, sondern praktische, irreligiöse, ethisch-gesellschaftliche Philosophie. Sie beginnt, den Schulen des »Epikuräers« Yang-dschu, des »Sozialisten« Moh-ti, des »Pessimisten« Dschwang-dsi, des »Positivisten« Meng-tse in der chinesischen Zivilisation und denen der Cyniker, Cyrenaiker, Stoiker und Epikuräer in der antiken entsprechend, im Abendlande mit Schopenhauer, der zuerst den
Willen zum Leben
(»schöpferische Lebenskraft«) in den Mittelpunkt seines Denkens stellte, aber, was die tiefere Tendenz seiner Lehre verschleiert hat, die veralteten Unterscheidungen von der Erscheinung und dem Ding an sich, von Form und Inhalt der Anschauung, von Verstand und Vernunft unter dem Eindruck einer großen Tradition noch beibehielt. Es ist derselbe schöpferische Lebenswille, der im Tristan schopenhauerisch verneint, im Siegfried darwinistisch bejaht wurde, den Nietzsche im Zarathustra glänzend und theatralisch formulierte, der durch den Hegelianer Marx der Anlaß einer nationalökonomischen, durch den Malthusianer Darwin der einer zoologischen Hypothese wurde, die beide gemeinsam und unvermerkt das Weltgefühl des westeuropäischen Großstädters verwandelt haben, und der von Hebbels »Judith« bis zu Ibsens Epilog eine Reihe tragischer Konzeptionen von gleichem Typus hervorrief, damit aber ebenfalls den Umkreis echter philosophischer Möglichkeiten erschöpft hat.
    Die systematische Philosophie liegt uns heute unendlich fern; die ethische ist abgeschlossen. Es bleibt noch eine
dritte, dem antiken Skeptizismus entsprechende Möglichkeit innerhalb der abendländischen Geisteswelt
, die, welche durch die bisher unbekannte Methode der vergleichenden historischen Morphologie bezeichnet wird. Eine Möglichkeit, das heißt eine Notwendigkeit. Der antike Skeptizismus ist ahistorisch: er zweifelt, indem er einfach nein sagt. Der des Abendlandes muß, wenn er innere Notwendigkeit besitzen, wenn er ein Symbol unseres dem Ende sich zuneigenden Seelentums sein soll, durch und durch historisch sein. Er hebt auf, indem er alles als relativ, als geschichtliche Erscheinung versteht. Er verfährt physiognomisch. Die skeptische Philosophie tritt im Hellenismus als Negation der Philosophie auf – man erklärt sie für zwecklos.
Wir
nehmen demgegenüber die
Geschichte der Philosophie
als letztes ernsthaftes Thema der Philosophie an. Das ist Skepsis. Man verzichtet auf absolute Standpunkte, der Grieche, indem er über die Vergangenheit seines Denkens lächelt, wir, indem wir sie als Organismus begreifen.
    In diesem Buche hegt der Versuch vor, diese »unphilosophische Philosophie« der Zukunft – es würde die letzte Westeuropas sein – zu skizzieren. Der Skeptizismus ist Ausdruck einer reinen Zivilisation; er zersetzt das Weltbild der voraufgegangenen Kultur. Hier erfolgt die Auflösung aller älteren Probleme ins Genetische. Die Überzeugung, daß alles was
ist
, auch
geworden ist
, daß allem Naturhaften und Erkennbaren ein Historisches zugrunde liegt, der Welt als dem Wirklichen ein Ich als das Mögliche, das sich in ihr verwirklicht hat, die Einsicht, daß nicht nur im Was, sondern auch im Wann und Wie lange ein tiefes Geheimnis ruht, führt auf die Tatsache, daß alles, was immer es sonst sei, auch
Ausdruck eines Lebendigen
sein muß. Auch Erkenntnisse und Wertungen sind Akte lebender Menschen. Dem vergangenen Denken war die äußere Wirklichkeit Erkenntnisprodukt und Anlaß ethischer Schätzungen; dem künftigen ist sie vor allem
Ausdruck und Symbol. Die Morphologie der Weltgeschichte wird notwendig zu einer universellen Symbolik.
    Damit fällt auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine und ewige Wahrheiten zu besitzen. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf ein bestimmtes Menschentum.

Weitere Kostenlose Bücher