Die Tränen der Prophetin: Roman (German Edition)
1.
Von ihrer langen Reise nach Rom und Brügge kehrte Alix erst im Herbst nach Tours zurück. Ihr treuer Freund Mathias hatte sich seit ihrer Abreise wie besessen in die Arbeit gestürzt. Ganz allmählich schien sein Schmerz über den Tod seiner Frau Florine nachzulassen und dem Bild von Alix zu weichen, die er um jeden Preis erobern wollte. Sehnsüchtig erwartete er ihre Rückkehr, um Alix voller Stolz zu zeigen, dass es ihm gelungen war, ihre Werkstätten wiederaufzubauen. Mit den knappen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, hatte er sie zunächst wieder in Gang gebracht, aber seit Julio dazugekommen war, liefen die zwei Werkstätten mit den vier Hochwebstühlen und den vier Flachwebstühlen auf Hochtouren, und sie konnten nun viele zusätzliche Aufträge annehmen.
An der Seite von Alix fasste Mathias neuen Lebensmut und wusste sich in vollkommenem Einverständnis mit ihr. Während ihrer Abwesenheit hatte sie ihm volle Handlungsfreiheit eingeräumt, und Mathias hatte den Vorarbeiter Arnold und dessen Frau wieder eingestellt, die nach dem verheerenden Brand bei einem anderen Meister Lohn und Brot gefunden hatten.
Der junge Weber hatte seine Arbeit sehr gut gemacht, sowohl was den Wiederaufbau der Werkstatt als auch was die Verpflichtung neuer Arbeitskräfte betraf. Nachdem er Arnold aufgespürt hatte, machte er sich auf die Suche nach Landry, der aus denselben Gründen nach Paris verschwunden, aber später ins Val de Loire zurückgekommen war. Mathias hatte ihn in Blois ausfindig
gemacht, als Landry dort auf Arbeitssuche war, und ohne große Umschweife kehrten die beiden Männer gemeinsam nach Tours zurück.
Alix war sehr erleichtert, als sie sah, dass ihre Werkstätten wieder aufblühten. Das Einzige, was ihr fehlte, war Jacquou, sein Gesicht, seine Augen, seine Stimme, seine zärtlichen Hände. Aber sie hütete die Erinnerung an ihn wie einen kostbaren Schatz, tief in ihrem Innersten. Jacquou schlummerte für immer und ewig sanft in ihrem Herzen.
Befreit von den Qualen der Einsamkeit und des Kummers ließ sich Alix von ihrem geliebten Alessandro in ungeahnte Sphären heftiger Leidenschaft mitreißen, die auf sonderbare Weise mit der Renaissance aus Italien zusammenhing, die sich ganz allmählich auch in Frankreich ausbreitete. Neugierig, kreativ, ehrgeizig und eigensinnig, wie sie war, wollte Alix natürlich dazugehören – und Alessandro würde ihr dabei helfen.
Außer Julio, der im Val de Loire bleiben wollte, und Angela, die sich beim Erlernen der Teppichweberei von Tag zu Tag steigerte, gab es noch den Waisenjungen Pierrot, den sie bei sich aufgenommen hatten und der seine Lehrzeit bei Alix zu Ende bringen wollte.
Als Mathias Alix endlich wiedersah, war er wie von Sinnen vor Freude. Doch obwohl er sie schöner denn je fand, irritierte ihn irgendwie das glückliche Leuchten in ihren Augen, das er bald genug verfluchen sollte, wenn er nur erst den Grund dafür erfahren hatte.
»Alix«, flüsterte er, als er sie zur Begrüßung umarmte, »Gott weiß, wie sehr ich mich nach dir gesehnt hätte, wenn ich nicht all die Arbeit gehabt hätte, Alix!«
Alix musste lachen, sie ahnte damals noch nicht, dass sie sich schon bald nicht mehr über die Liebe lustig machen würde, die
Mathias für sie empfand. Sie würde noch begreifen, dass die zärtlichen Augenblicke zwischen ihnen bei ihrer Abreise nach Italien und in den Norden die Folge ihrer beider Witwenschaft war, die sie in tiefe Verzweiflung gestürzt hatte.
Natürlich hätte auch alles ganz anders kommen können, wenn Alix nicht mit diesem seltsamen Leuchten in den Augen aus Brügge zurückgekehrt wäre, das Mathias so fürchtete. Die Frau, die dem jungen Weber nicht aus dem Kopf gehen wollte, war sanft, heiter und ruhig und voller Sehnsucht nach dem neuen Frühling, auf den er wartete, während der Glanz in den Augen von Alix nur eine verzehrende Leidenschaft widerspiegeln konnte.
So hatte es das Schicksal nun einmal gewollt. Mathias war allein geblieben, aber Alix hatte eine neue Liebe gefunden, über die sie jedoch mit keinem sprach. Nur Julio und Angela wussten, warum sie so froh und glücklich war.
»Nicolas, mein kleiner Engel!«, rief sie jetzt und nahm Mathias’ Kind auf den Arm. »Du bist aber groß geworden!«
Der Sohn von Mathias, der so wenig von seiner Mutter gehabt hatte, strotzte tatsächlich nur so vor Gesundheit! Alix drückte ihn an sich und sog genüsslich den Geruch ein, nach dem nur kleine Kinder so wunderbar duften. Das
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