Der Untergang
muss.«
»Warum sagst du das?«, fragte Elena. Der Schmerz in ihrer Stimme klang echt. Beinahe hätte er ihn
wirklich überzeugt.
»Ich hatte nie vor, dir ein Leid anzutun.«
»Oh nein«, sagte Andrej. »Ich bin sicher, du wirst gleich morgen Abend wieder in mein Bett kriechen, um
zu sehen, ob ich vielleicht noch eine vierte Nacht mit dir überlebe.«
»Ich bin nun einmal, was ich bin«, antwortete Elena.
»Genau wie du. Willst du mir meine Natur zum Vorwurf machen?«
»So wie die deiner Mutter?«, fragte Andrej.
Elena schwieg eine Weile. »Du hast sie getötet«, sagte sie dann.
Andrej nickte.
»Dann ist ein Teil von ihr jetzt auch ein Teil von dir«, sagte Elena. »Vielleicht bist du tatsächlich der, auf
den wir gewartet haben. Warum wehrst du dich, Andreas? Sieh endlich ein, dass du zu uns gehörst. Zu
mir.«
Und vielleicht hatte sie ja Recht. Wieso entsetzte ihn das Gemetzel so sehr, das Abu Dun angerichtet
hatte? Er selbst hatte ihm Laufe seines Lebens so viel mehr Männer getötet, und nur die wenigsten von
ihnen hatten eine echte Chance gehabt. Und auch in ihm wohnte das gleiche Ungeheuer, das er in Ankas
Seele gespürt hatte, dasselbe Raubtier, das in Gestalt einer wunderschönen, verlockenden Frau hinter ihm
stand. Vielleicht hatte sie Recht. Es konnte kein Zufall sein, dass er so lange durch die Welt gezogen war,
so viele seiner Art getroffen hatte, und dass er niemals auch nur einem einzigen begegnet war, der wie er
der Verlockung des Blutes so lange widerstanden hatte. Ja. Er gehörte zu ihr. Er konnte diesen Kampf
noch ein Menschenleben lang führen oder auch zwei oder hundert, aber am Ende würde er ihn verlieren.
Warum ihn dann überhaupt kämpfen? Warum ein Dasein auf der Flucht und in ständiger Angst vor sich
selbst einem Leben an Elenas Seite vorziehen? Sie konnte ihm gehören, sie würde ihm gehören, jetzt, wo
es Anka nicht mehr gab und Laurus … Er musste einfach nur stehen bleiben und nichts tun, und statt eines
Millenniums auf der Flucht und einer Ewigkeit voller Angst und Selbstzweifeln wartete ein Leben im
Schutze einer Familie auf ihn, und ungezählte Nächte, in denen er Elena in den Armen halten und die
Wärme ihres Körpers spüren konnte.
»Du kannst ihn nicht mehr retten, Andreas«, sagte Elena noch einmal. »Er ist verloren, wie wir alle. Aber
wenn du ihn opferst, gewinnst du mich.«
In diesem Moment schrie Andrej auf, als hätte man ihm einen glühenden Dolch in die Brust gestoßen,
wirbelte herum und riss noch in der Bewegung das Schwert aus dem Gürtel. Vermutlich begriff Elena
nicht, was geschah, keinesfalls jedoch spürte sie den scharf geschliffenen Stahl des Damaszenerschwertes,
das sie enthauptete. Etwas in Andrej starb mit ihr in diesem Moment, schnell und lautlos und
unwiderruflich und noch bevor er den Schlag ganz ausgeführt und aus der selben Drehung heraus auch
Elenas Tochter niedergestreckt hatte. Das Mädchen sank lautlos neben seiner Mutter zu Boden, und
wieder war es Andrej, als erhebe sich ein unsichtbarer dunkler Vogel auf rauchigen Schwingen in die
Nacht, um mit einem klagenden Schrei zu vergehen.
Doch Andrej schritt gnadenlos voran, tötete zuerst den älteren Knaben und dann seine beiden jüngeren
Brüder, und auch das, was er im letzten Moment in ihren Augen las, würde er nie mehr vergessen, denn in
der Sekunde, da sie der tödliche Stahl traf, schien alles Dämonische und Böse von ihnen abzufallen. Und
vielleicht waren es nun tatsächlich Kinder, die er erschlug, und keine Höllenbrut, jetzt, wo das Ungeheuer,
das sie erschaffen hatte, nicht mehr lebte.
Dennoch brachte er es zu Ende. Er konnte nicht anders. Und vielleicht war der Tod, den er ihnen brachte,
die einzige Gnade, die es für diese missbrauchten Kreaturen noch gab.
Als es vorbei war, ließ er erschöpft sein Schwert sinken und drehte sich zu Abu Dun und dem Inquisitor
herum. Der Nubier zitterte am ganzen Leib. Sein Blick irrte unstet über den Hügel und den Weg, über die
reglosen Körper Elenas und ihrer Kinder, und verlor sich dann in einer Unendlichkeit, die von
grenzenlosem Entsetzen erfüllt zu sein schien. Andrej war nicht sicher, ob er überhaupt begriffen hatte,
was vorging.
Das blutige Schwert noch immer in der Hand, trat er neben den Inquisitor und ließ sich auf ein Knie
herabsinken. Der Kirchenmann erschrak und versuchte ein Stück vor ihm zurückzukriechen, erstarrte aber
dann mitten in der Bewegung, als Andrej eine Hand nach ihm ausstreckte.
»Nein!«, keuchte er.
»Habt keine
Weitere Kostenlose Bücher