Der verborgene Charme der Schildkröte
war die Person sofort als die Vorsitzende der Richard-III.-Rehabilitierungsgesellschaft zu erkennen. Monatelang hatte sie versucht, ihn als Mitglied zu werben, da ihre Leidenschaft für den verruchten König vom Treibstoff ihrer unerwiderten Liebe zu dem Geistlichen noch beflügelt wurde. Aus Angst, sie könne ihn wieder davon zu überzeugen versuchen, wie ungerecht es war, dass alle Welt Richard III. für einen buckligen Kindermörder hielt, schloss Rev. Septimus Drew schnell die Tür auf und schlug sie hinter sich wieder zu.
Er ging den Flur entlang und betrat sein Junggesellenwohnzimmer, wo er mehr Zeit verbrachte, als ihm lieb war. Vorsichtig, um sich nicht auf die aufmüpfige Sprungfeder zu setzen, ließ er sich auf dem Sofa nieder, das er zusammen mit den anderen kunterbunt durcheinandergewürfelten Möbeln vom alten Kaplan übernommen hatte. Er griff zu der Biographie von Jack Black, dem Ratten- und Maulwurfsfänger von Königin Viktoria, und begann zu lesen. Schnell wanderten seine Gedanken allerdings wieder zu der Frau hinüber, die abermals nicht in der Kapelle erschienen war. Irgendwann blieb sein Blick an dem Familienfoto auf dem Kaminsims hängen. Es war an Weihnachten aufgenommen worden, als seine sechs Schwestern mit ihren Ehegatten und zahllosen Kindern zum Essen zu ihm gekommen waren. Als sein Blick über die Gesichter glitt, spürte er die Bitterkeit des Versagens, weil er der Einzige war, der noch nicht geheiratet hatte.
Da seine Nase immer noch vom Gestank des Rattendrecks verpestet war, nahm er eine Flasche Rescue Remedy von einem Beistelltischchen und ließ zwei Tropfen der Notfalltinktur auf seine Zunge tropfen. Sein Glaube an die mystischen Kräfte dieser Bachblütenmischung und vieler anderer, noch verrückterer Angebote, welche die Druiden der modernen Medizin zusammenbrauten, war so stark wie der an den Heiligen Geist. Seit sich der Geistliche dem mittleren Lebensalter näherte, füllte er seinen Badezimmerschrank konsequent mit den neuesten Tinkturen und Trünken für die grundlos Besorgten. Er war nämlich der festen Überzeugung, dass sein Körper besonders anfällig war, weil seinen Organen ohne die Liebe die nötige Wärme fehlte.
Dieser Glaube entbehrte nicht der Grundlage, auch wenn er auf wackligen Füßen stehen mochte. Als ältere Frau hatte seine Mutter monatelang im Krankenhaus gelegen, das Gesicht gelb wie Porridge, und die gesamte Familie war davon überzeugt gewesen, dass sie jeden Moment ihrem Schöpfer entgegentrete. So fest war diese Überzeugung gewesen, dass man schon die Begräbnismusik ausgewählt und den Floristen auf einen baldigen Einsatz vorbereitet hatte. Die Bettdecke ans stopplige Kinn hochgezogen, sprach Florence Drew von nichts anderem mehr, als dass sie bald ihren Ehemann im Himmel wiedersehen würde. Ihre einzige Sorge war, dass er sie nicht wiedererkennen würde, weil die Krankheit ihren Körper gezeichnet hatte.
Eines Nachts stand der Mann, der neben ihr lag und nie Besucher hatte, aus seinem Bett auf und setzte sich auf den grauen Plastikstuhl zu ihrer Seite. George Proudfoot schaltete das Nachtlicht an, griff in die Tasche seines neuen Morgenmantels, der sein letzter sein würde, zog ein Taschenbuch hervor und begann, laut daraus vorzulesen, damit er vor seinem Ableben seine Stimme noch einmal hören würde. Jede Nacht kam er wieder, obwohl die Witwe sich schlafend stellte und keinen Mucks von sich gab.
Als er eines Abends nicht erschien, rief sie nach ihm, weil sie es nicht ertragen hätte zu sterben, ohne das Ende zu erfahren. George Proudfoot war dem Tode schon so nahe, dass er kaum noch sprechen konnte, aber er schaffte es schließlich, den Weg zu dem grauen Plastikstuhl zurückzulegen. Mit der brüchigen Stimme des Einsiedlers erfand er eine Auflösung des Konflikts, weil er nicht mehr lesen konnte. Die Wendung, die das Ganze nahm, war so genial, dass Florence Drew sofort um eine neue Geschichte bat, und so kam er jede Nacht mit einer neuen Dosis Erzählstoff. Die Witwe lag wie hypnotisiert da, drehte ihm den Kopf zu und konnte ihre Augen nicht von seinen Lippen lassen. Je nach Art der Geschichte verkrallten sich ihre Finger, die sich im Alter wie Haselnusszweige zwirbelten, vor Angst im Bettzeug, oder sie zogen es hoch, um die Tränen zu trocknen.
Plötzlich freute sie sich nicht mehr auf den Tod, denn George Proudfoot hob das Ende immer für die nächste Nacht auf, zu schwach, um in einem Zug eine ganze Geschichte erzählen zu können. Auch
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