Der verborgene Charme der Schildkröte
vorsichtig. »Frederik Kjeldsen?«
»Ja!«
»Hier ist Mrs. Jones vom Fundbüro der Londoner Untergrundbahn. Ich glaube, wir haben etwas, das Ihnen gehören könnte.«
Zunächst trat vollkommene Stille ein, dann fing Frederik Kjeldsen an zu weinen. Als das erstickte Geräusch schließlich verklang, entschuldigte sich der Mann und erzählte, was passiert war.
»Vor zwei Jahren habe ich bei einem Verkehrsunfall mein Auge verloren und habe sieben Wochen lang im Krankenhaus gelegen«, sagte er. »Danach habe ich mich nicht mehr getraut, Auto zu fahren, und musste meinen Beruf als Lehrer aufgeben. Ich war so depressiv, dass ich mir nicht einmal eine … wie sagt man doch gleich?«
»Prothese?«
»Ja genau, eine Prothese besorgen wollte. Erst als meine Schwester sagte, sie wolle heiraten, beschloss ich, mir eine anfertigen zu lassen. Ich wollte ihr die Peinlichkeit ersparen, mit nur einem Auge auf den Hochzeitsfotos zu erscheinen. Gleichzeitig beschloss ich aber auch, mir nach den Feierlichkeiten das Leben zu nehmen.«
Es entstand eine Pause, in der die beiden Gesprächspartner durch die Stille hindurch die Anwesenheit des anderen spürten.
»Ich musste sogar einmal mit dem Bus umsteigen, bis ich bei dem Glasaugenhersteller war«, fuhr er fort. »Aber als die Frau, die dort arbeitete, von ihren Instrumenten aufsah und mit der Stimme eines Engels zu mir sprach, verliebte ich mich sofort in sie. Nach acht Monaten, in denen ich zugegebenermaßen viele überflüssige Termine mit ihr ausgemacht hatte, bat ich sie unter derselben Tanne, unter der mein Vater meiner Mutter einen Heiratsantrag gemacht hatte, meine Frau zu werden. Unsere Hochzeit hat die Floristen im Umkreis von vielen Kilometern geplündert. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich war.«
Nachdem er laut geschluckt hatte, fuhr Frederik Kjeldsen fort: »Vor zehn Tagen bin ich dann nach einem Wochenende in London, wo ich meine Nichte besucht habe, zum Flughafen zurückgefahren, als die U-Bahn plötzlich bremste. Ich bin mit dem Kopf ans Fenster geknallt, und mein Glasauge fiel heraus. Im Waggon gab es so viele Füße und Koffer, dass ich es bei der Ankunft in Heathrow immer noch nicht wiedergefunden hatte. Wenn ich weitergesucht hätte, wäre der Zug nach London zurückgefahren, und ich hätte meinen Flug verpasst. Wegen der Arbeit musste ich aber am nächsten Tag wieder daheim sein, außerdem hatte ich wahnsinnige Kopfschmerzen, also habe ich die Sonnenbrille aufgesetzt und bin raus. Meine Frau hat mir natürlich ein neues Auge gemacht, aber ich hätte so gerne das alte zurückgehabt, das uns zusammengebracht hat. Und nun scheinen Sie es gefunden zu haben. Es ist wirklich ein Wunder.«
Nachdem Frederik Kjeldsen sich noch einmal für seine tränenreiche Rede entschuldigt hatte, versicherte ihm Hebe Jones, dass sie das Auge sofort in die Post geben würde. Als sie auflegte, stand Valerie Jennings hinter ihr, schielte ihr über die Schulter und kratzte sich am Nest dunkler Locken, die an ihrem Hinterkopf verankert waren. Dann ging sie zu einem der Regale und kam mit einer Schachtel zurück. Die enthielt ein mundgeblasenes Glasauge, das Lord Nelson gehört haben sollte, und ein anderes aus Porzellan, das gemäß Begleitzettel von einem chinesischen Kaiser getragen wurde, wenn er mit seiner Lieblingskonkubine geschlafen hatte. Valerie Jennings, die den schalen Geschmack der Langeweile im Mund hatte, hielt sie ihrer Kollegin hin und fragte: »Wie wär’s mit einer Partie Murmeln?«
Hebe Jones war sich sicher, dass sie gewinnen würde, zumal sie nicht vor der würdelosen Maßnahme zurückschreckte, sich flach auf den Boden zu legen. Ihre Begabung hatte sie als kleines Kind auf dem kühlen Fliesenboden des Athener Hauses entdeckt, und im Alter von fünf Jahren, als die Grammatikos bereits nach London gezogen waren, galt sie – trotz der besonderen Herausforderung durch den Teppichboden – als praktisch unschlagbar. Dass sie auch mit verbundenen Augen gewann, führte allgemein zu der Auffassung, dass sie ein außergewöhnlich gutes Gehör besitze, obwohl man natürlich mit noch größerer Berechtigung hätte mutmaßen können, dass sie schlicht unter der Augenbinde hervorlinste. In der Folge behauptete sie, Kinder im Mutterleib reden zu hören, und die Mütter der griechischen Gemeinschaft, die bei einer der ihren eher an eine solche Fähigkeit zu glauben geneigt waren, kamen mit ihrem dicken Bauch zu ihr, um die ersten Worte ihres Kindes zu erfahren.
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