Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
Vom Netzwerk:
er hatte aufgehört, für ein schnelles Ende zu beten, denn er brauchte die Zeit, um sich Auflösungen auszudenken, auf die er genauso neugierig war wie sie.
    Eines Nachts strich er Florence Drews zerknittertes Oberbett glatt und küsste sie auf die Stirn, bevor er ins Bett zurückging. Diese Fußnote zu ihrem Ritual wiederholte sich nun allabendlich. Die Gesichtsfarbe der Witwe kehrte mit einer solchen Macht zurück, dass beim Floristen Entwarnung gegeben wurde. Blutproben wurden gleich dreimal genommen, um sich ihrer Korrektheit zu vergewissern, und bald verließ Florence Drews Herzschlag den Normalbereich, diesmal aber in die andere Richtung, was die Monitore durchdrehen ließ. Medizinstudenten versammelten sich am Fußende ihres Bettes, um die Patientin zu sehen, die durch die Macht der Liebe dem Tod entrissen wurde.
    Schließlich entschied das medizinische Personal, dass man es mit einem hoffnungslosen Fall zu tun habe, und entließ die Mutter des Kaplans, zusammen mit George Proudfoot, den es ebenso schlimm erwischt hatte. Das Paar zog in gegenüberliegende Zimmer in einem Pflegeheim, und die Türen blieben immer geöffnet, damit der nächtlichen Werbung nichts im Wege stand. Niemals ließ die Fantasie den Mann im Stich, und so lebten sie in einem derart seligen Zustand, dass ihnen der Neid der jungen Schwestern gewiss war, deren Liebeleien immer katastrophal verliefen.
    Als Florence Drew dann irgendwann starb, folgte George Proudfoot innerhalb kürzester Zeit nach. Beide hatten sie die Anweisung hinterlassen, dass sie im selben Sarg beerdigt werden sollten, da sie es nicht ertragen konnten, im Tod getrennt zu sein. Die sechs Töchter wollten sich der Bitte widersetzen, doch Rev. Septimus Drew bestand darauf, dass sie befolgt wurde, da man in den heiligen Stand der Liebe nicht hineinpfuschen dürfe. Das Paar wurde also gemeinsam in die Erde versenkt, und das war das erste Mal, dass sie sich in den Armen lagen.
    Balthazar Jones saß in dem kleinen schwarzen Kabuff am Bloody Tower und spürte seine Zehen nicht mehr. Das schwächliche Heizgerät, das für gewöhnlich gegen die Kälte hinter der offenen Halbtür schützte, konnte er nicht benutzen, weil ihm sofort nach dem Anschalten der eklige Gestank von altem Bacon-Fett entgegengeschlagen war – ein Überbleibsel des zweiten Frühstücks, das der Yeoman Gaoler eine Woche zuvor hier verspeist hatte.
    Es war ein anstrengender Morgen für die Beefeater, da das ungewöhnlich trockene Wetter die Touristen dazu bewog, auf dem Gelände herumzuspazieren und nicht in den Türmen Zuflucht zu suchen. Und nur wenige widerstanden der Versuchung, unendlich idiotische Fragen zu stellen. Balthazar Jones war schon gefragt worden, in welchem Turm Lady Diana nach ihrer Scheidung gesessen habe, ob er ein Schauspieler sei und ob die Kronjuwelen, die seit dem siebzehnten Jahrhundert im Tower ausgestellt wurden, echt seien. Das war noch zu den üblichen Fragen hinzugekommen, die alle paar Minuten an ihn herangetragen wurden und sich vor allem auf Exekutionen, Foltermethoden und den Weg zum Klo bezogen.
    Über die Jahrhunderte hinweg hatten die Beefeater die schlimmsten Besucherfragen schriftlich festgehalten, ebenso wie ihre eigenen besonders fragwürdigen Verfehlungen. Die in Leder eingebundenen Bände verzeichneten auch die Geschichte von dem Adeligen, der 1587 Everard Digbys De Arte Natandi gelesen hatte, das erste Buch, das in England über die Kunst des Schwimmens veröffentlicht worden war. Nachdem er gründlich die Holzschnittillustrationen studiert hatte, ignorierte der Mann die Tatsache, dass sich der Autor auf das Brustschwimmen konzentrierte, und beschloss, seine ersten Manöver im Wasser auf dem Rücken durchzuführen. Für den Anfang hatte er nicht die überfüllte Themse, sondern die ruhigen Gewässer des Tower-Grabens auserkoren. In dem Moment, in dem der Beefeater, der ihn begleitete, ihm den Rücken zukehrte, riss sich der Gentleman also Kniehose und Hemd vom Leib, reichte seiner Frau seine Perücke und eilte zu den Stufen am Byward Tower, die in den Graben hinabführten. Nie ist klar geworden, ob es an der miserablen Beherrschung des Rückenschwimmens lag oder vielmehr am ekelhaften Wasser, jedenfalls trieb sein aufgedunsener Körper bis zum nächsten Frühjahr um die Festung herum und wurde zur jüngsten Attraktion für die wuselnden Massen, aufgeputscht noch von den eindringlichen Warnungen in den Zeitungen, in denen Doktoren darauf hinwiesen, dass dieses

Weitere Kostenlose Bücher