Der verborgene Charme der Schildkröte
persönliche Diener Ihrer Majestät.
Der Beefeater lehnte sich zurück. »Wo waren sie denn?«
»Sie sind bis Milton Keynes gelangt. Ein Polizist hat sie gestern in den frühen Morgenstunden in einem Kreisverkehr bemerkt.«
Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, stieg er die Treppe hoch. Da ihn der Geruch der Bettlaken daran erinnerte, wie sehr ihm seine Frau fehlte, zog er das Bett ab und ließ nur das Nachthemd auf seinem Kissen liegen. Als er den Wäscheschrank öffnete, um frische Bettwäsche herauszuholen, bemerkte er das weiße Herrenwams und warf es in den Mülleimer.
Beim Anblick des ruinierten Kleiderschranks beschloss er, ihn endlich zusammenzusetzen. Als der Schrank wieder stand, sammelte er die Kleidungsstücke zusammen und hängte sie hinein. In dem Haufen befanden sich auch ein paar Pullover seiner Frau, und als er sie zusammenlegte, stieß er auf Milos Urne. Er nahm sie, setzte sich aufs Bett und schaute sie an. Als er darüber nachdachte, was er im Leben gehabt und was er verloren hatte, gelangte er zu dem Schluss, dass er nichts davon verdient hatte. Sanft wischte er mit seinem Taschentuch den Staub von der Urne, stand auf und stellte sie auf die Fensterbank.
Er legte sich auf das frisch bezogene Bett und hoffte, er würde vor der Arbeit noch ein wenig ausruhen können, aber der Schmerz der Einsamkeit in seinen Knochen war so unerträglich, dass er sich sofort wieder aufrichtete. Nachdem er ins Wohnzimmer hinuntergestiegen war, brachte ihn das Vorderteil des Pferdekostüms derart aus dem Konzept, dass er in die Küche ging, einen Stuhl hervorzog und sich an den Küchentisch setzte. Schnell aber stand er wieder auf, als er über der Spüle das Bild mit den drei lachenden Gestalten hängen sah, zwei großen und einer kleinen neben einem bunten Klecks. Wieder durchquerte er das Wohnzimmer und stieg dann die leichenkalten Stufen hinab.
Er öffnete die Tür zu Milos Zimmer und zog die Vorhänge auf, die er vor so vielen Jahren genäht hatte. Der Raum füllte sich mit dem gnadenlosen Märzlicht. Balthazar Jones setzte sich auf das Bett und strich über das weiche Kissen, auf dem einst der Kopf seines Sohnes gelegen hatte. Er schaute sich unter seinen Besitztümern um, die er bald schon würde zusammenpacken müssen, holte dann die Streichholzschachtel aus dem Bücherregal, schob sie auf und betrachtete die Fünf-Penny-Münze. Dann nahm er den Ammoniten und fuhr mit dem Daumen seine Konturen ab. Auf dem Nachttisch lag noch das Buch über die griechischen Götter, und er blätterte darin herum und hielt inne, um das Bild von Hermes mit einer Schildkröte zu betrachten. Er hätte selbst nicht sagen können, wie lange er schon wieder auf dem Bett saß, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Als er aufschaute, sah er Hebe Jones mit ihrem Koffer im Türrahmen stehen.
Keiner sagte ein Wort. Schließlich stellte sie ihren Koffer ab und setzte sich neben ihren Ehemann. Balthazar Jones redete als Erster. »Ich war es, der Milo getötet hat«, sagte er und schaute zu Boden.
Hebe Jones schlug die Hand vor den Mund. »Was redest du denn da?«, fragte sie und schaute ihn an.
Zögernd erzählte ihr der Beefeater von dem Streit, den er mit Milo gehabt hatte, bevor er in der Nacht gestorben war. Milo hatte an dem Abend nicht alle seine Hausaufgaben gemacht, und er hatte ihm gedroht, ihn am Wochenende nicht mit ins Museum für Naturwissenschaften mitzunehmen, wenn er sie nicht rechtzeitig fertig bekomme.
»Was hat das denn mit seinem Tod zu tun?«, fragte sie.
Er erinnerte sie an die Worte des Pathologen, der bei der gerichtlichen Untersuchung laut und deutlich gesagt hatte, dass Kinder als Folge von emotionalem Stress den plötzlichen Herztod erleiden könnten.
Hebe Jones legte eine Hand auf seinen Oberschenkel. »Und das hast du in all diesen Jahren gedacht?«, fragte sie und suchte seinen Blick. Dann erinnerte sie ihn daran, dass der Pathologe auch gesagt hatte, dass manche Kinder starben, wenn sie plötzlich aus dem Schlaf aufwachten oder während sie herumtollten, und Milo sei doch den ganzen Abend lang die verfluchten Treppen hoch- und runtergerannt.
Schweigend starrte sie vor sich hin. Schließlich sagte sie: »Wenn irgendetwas das Herz des armen Jungen geschwächt hat, dann war es die Liebe, die er für uns empfand.«
Seine Tränen liefen und liefen und liefen. Und als sie beide dachten, es sei endlich vorbei, flossen sie immer noch.
Nachdem sie zu reden aufgehört hatten, packte Hebe Jones ihren
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