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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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Sie bat um absolute Ruhe, presste ihr Ohr an den hervorspringenden Bauchnabel und übersetzte die Quietscher, Seufzer und uralten Ächzer mit der flüssigen Eloquenz der Mehrsprachigen.
    »Nein, lieber nicht«, antwortete Hebe Jones trotzdem und drehte die Prothese in der Hand hin und her. »Schau, sie ist konkav. Außerdem ist das Auge des armen Mannes genug in London herumgekullert.«
    Sie verschloss die Schachtel mit Paketband, das in gegenseitigem Einverständnis, nachdem es allzu oft verschwunden war, am Handgelenk der aufblasbaren Puppe klebte, schrieb Herrn Kjeldsens Anschrift auf das Päckchen und ließ es mit einem befriedigenden Triumphgefühl in den Postsack fallen. Als sie auf ihrem Schreibtisch nach dem nächsten Objekt Ausschau hielt, fiel ihr Blick auf die Urne. Schuldgefühle überkamen sie, weil sie die Holzkiste seit ihrer Ankunft ignoriert hatte. Sie drehte sie in ihren Händen herum und strich mit dem Finger über die Messingplakette mit der eleganten Aufschrift ›Clementine Perkins, 1939–2008. RIP‹. Ihre Gedanken galten der Frau, deren sterbliche Überreste in der Untergrundbahn herumgereist waren, aber noch mehr Mitleid hatte sie mit dem Menschen, der sie verloren hatte. In der Hoffnung, etwas zu finden, das ihr bei der Suche nach den Angehörigen von Clementine Perkins helfen würde, beschloss sie, einen Blick ins nationale Sterberegister zu werfen.
    »Ich geh mal schnell in die Bibliothek«, sagte sie, und innerhalb kürzester Zeit waren Hebe Jones und ihr türkisfarbener Mantel verschwunden.
    Valerie Jennings sah, wie sie um die Ecke bog, und ärgerte sich plötzlich, dass sie ihre Kollegin nicht gebeten hatte, ihr eine Rosinenschnecke aus der Bäckerei an der Hauptstraße mitzubringen. Obwohl sie sich dort immer etwas kaufte, hatte sie oft über das Angebot geklagt. Eine Zeitlang hatte sie das Geschäft sogar boykottiert, nachdem sie die Diskussion zweier französischer Touristen mitbekommen hatte, ob sich mit den Waren in der Auslage eigentlich auch Löcher kitten ließen. Schließlich hatte aber die Nachsicht gesiegt, befördert von Patriotismus und Notwendigkeit.
    Nachdem sie ein gelbes Kanu gekennzeichnet hatte, packte sie es an einem Ende und zog es durchs Büro. Während sie in ihren flachen schwarzen Schuhen rückwärtsschlurfte, entschlüpften ihr eine Reihe unfeiner Wörter. Schließlich aber hatte sie das Kanu auf das obere Regal der nautischen Abteilung gehievt, drückte den Rücken durch, ging zum original viktorianischen Schalter zurück und schrieb in einem unverständlichen Code die Regalnummer in eines der Register.
    Das Fundbüro der Londoner Untergrundbahn war das einzige Büro in ganz London ohne Computer. Gegen dessen Einführung hatten sich die beiden Frauen mit hartnäckiger Beharrlichkeit gewehrt. Als sie vor fünf Jahren davon in Kenntnis gesetzt worden waren, dass man die unergründlichen Geräte demnächst installieren würde, boten sie mit der eigentümlichen Seelenverwandtschaft von Zwillingen beide sofort ihre Kündigung an. Dann präsentierten sie wie zwei Jahrmarktskuriositäten ihr enzyklopädisches Wissen über die Gegenstände auf den sorgsam nummerierten Regalen und vergaßen auch nicht hinzuzufügen, auf welcher U-Bahn-Linie sie jeweils gefunden worden waren.
    Ihr unbestechliches Gedächtnis reichte aber noch nicht aus, um die Behörden davon abzubringen, die Kündigung anzunehmen. Das tat man erst, als man versuchte, die Querverweise in den Registern zu ergründen. Die uralte Codierung, mit der sich Bedienstete einst unverzichtbar hatten machen wollen, stammte noch aus viktorianischen Zeiten. Damals hatte man das Fundbüro eingerichtet, um der Flut von Muffs und Stöcken Herr zu werden, die in dem brandneuen Transportmittel zurückgelassen wurden.
    Sobald den Vorgesetzten aufging, was da auf sie zukam, steckte einer von ihnen ein paar Zuckerstangen ein und stattete den einzigen noch lebenden ehemaligen Fundbüromitarbeitern einen Besuch ab. Die beiden hockten im Gemeinschaftsraum eines Altenheims, stützten sich wechselseitig und waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Aber trotz der Freude über einen unerwarteten Gast, dazu noch einen mit solchen Schätzen in der Tasche, waren sie, als sich der Nebel der Senilität für einen Moment lichtete, nicht dazu bereit, den Schlüssel zu dem Code zu verraten, der ihnen ein lebenslanges Auskommen gesichert hatte. Alle Modernisierungsbemühungen wurden also bis zum nächsten Wechsel in der Führung

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