Der verborgene Charme der Schildkröte
Dore erlitten hatte, weil sie über die Jahre hinweg Zeugin der vergifteten Liebesbezeugungen ihrer Eltern gewesen war. Ihre Mutter hatte ihr stets nahegelegt, alleine zu bleiben. »Nichts ist einsamer als die Ehe«, hatte sie gewarnt. Aber Ruby Dore hatte sich geweigert, ihr zu glauben. Auf ihrer Suche nach Zuneigung war sie allerdings immer an die finstersten Herzen geraten, und so oft sie ihr Schlafzimmerfenster auch öffnen mochte, das Mondlicht der Liebe hatte noch nie auf sie herabgeschienen.
Hebe Jones hatte kein Glück mit dem Sterberegister gehabt. Obwohl sie es gründlich studiert hatte, hatte sie unter dem Namen Clementine Perkins niemanden gefunden, der nicht schon Jahrzehnte zuvor gestorben wäre. Also hatte sie die Sache wieder verdrängt und beschäftigte sich lieber mit einfacheren Fundstücken, die den wärmenden Triumph des Erfolgs versprachen, Handtaschen mit der Telefonnummer der Besitzerin darin etwa. Der Anblick der Urne, die auf ihrem Schreibtisch stand, beunruhigte sie trotzdem.
»Valerie«, sagte sie und betrachtete die Messingplakette.
»Ja«, kam die erstickte Antwort. Hebe Jones blickte sich um und sah, dass sich ihre Kollegin in das Vorderteil des Pferdekostüms gequetscht hatte, das auf einer Bank am Piccadilly Circus liegen geblieben war.
»Hier drin stinkt’s«, sagte Valerie Jennings und suchte nach einer Position, in der sie durch das kleine Maschendrahtfenster im Hals schauen konnte.
»Wonach?«
»Möhren.«
»Ich wollte dich nach deiner Meinung zu etwas fragen«, fuhr Hebe Jones fort, ohne die Antwort zu beachten.
Valerie Jennings setzte sich an ihren Schreibtisch und verschränkte die verfilzten Fellbeine.
»Wenn jemand stirbt, der Tod aber nicht offiziell registriert ist, was kann das wohl bedeuten?«, fragte Hebe Jones.
Valerie Jennings kratzte sich mit einem braunen Lederhuf im Nacken. »Nun, das kann eine Menge bedeuten. Vielleicht ist die Person gar nicht gestorben, und man tut nur so, als wäre sie es«, sagte sie und zog an einer Schnur, die ihre Augen nach links schießen ließ. »Oder die Person ist tatsächlich gestorben, aber irgendjemand möchte das geheim halten und hat das Personal im Krematorium bestochen, damit es nicht die Behörden informiert«, fuhr sie fort, zog an einer anderen Schnur und ließ die Augen nach rechts schießen.
»Ich glaube, du liest zu viele Bücher«, befand Hebe Jones.
»Außerdem gibt es noch menschliches Versagen«, fügte Valerie hinzu und drückte auf einen Kopf, der die Augenlider mit den glänzenden Wimpern zum Klimpern brachte. Dann erhob sie sich und ging zum Kühlschrank. Als sie gerade den Huf an den Türgriff gelegt hatte, läutete die Schweizer Kuhglocke. Sie zappelte und fluchte und merkte jetzt, dass sie hoffnungslos feststeckte. Hebe Jones stand auf und zog an den gewaltigen Fellohren, hörte aber schnell auf, als die sich zu lösen begannen.
Wieder läutete die Kuhglocke, und zwar mit einer solchen Dringlichkeit, dass sich Hebe Jones schnell auf den Weg machte und unterwegs nicht einmal den Safe zu öffnen versuchte.
Als sie um die Ecke bog, sah sie einen Mann in einer Marineuniform am original viktorianischen Schalter stehen. Seine dichten, dunklen Haaren durchzogen schon ein paar graue Strähnen.
»Ist das hier das Fundbüro der Londoner Untergrundbahn?«, fragte er.
Hebe Jones schaute zu dem Schild über dem Schalter hoch.
Er folgte ihrem Blick. »Hat irgendjemand in den letzten fünfzehn Minuten ein kleines grünes Gefäß abgegeben? Es handelt sich um einen Notfall«, erklärte er.
»Wie sieht das Gefäß aus?«, fragte sie.
»Ein bisschen größer als eine Butterbrotdose.«
»Enthielt es etwas, das man identifizieren könnte?«
»Eine Niere«, antwortete er.
»Eine Niere wie in Nierenragout?«
»Eher wie in Organspende.«
Hebe Jones trat um die Ecke und rief: »Valerie! Hat in den letzten fünfzehn Minuten irgendjemand ein grünes Gefäß abgegeben?«
»Nein«, erklang die dumpfe Antwort.
Hebe Jones trat schnell wieder um die Ecke. »Wo haben Sie es liegen lassen?«, fragte sie.
»Nirgendwo«, sagte der Mann. »Ich hatte es vor mir auf dem Boden abgestellt, als ich an der Waggontür stand. Im nächsten Moment war es plötzlich nicht mehr da.«
Nun fing das Telefon im Büro zu klingeln an. Als es gar nicht mehr aufhören wollte, rief Hebe Jones: »Valerie, kannst du mal drangehen?«
Sie erhielt keine Antwort. Als sie um die Ecke blickte, beugte sich Valerie Jennings gerade über den
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