Der verborgene Charme der Schildkröte
und schließlich suchte er zwischen seinen CDs nach Phil Collins’ Love Songs , weil er hoffte, dass sie einen beruhigenden Einfluss auf seinen hochnervösen Beifahrer haben könnten. Gehupe und unschöne Gesten begleiteten sie, als sie im Schneckentempo zum Tower zurückfuhren.
Ruby Dore klopfte an die blaue Tür an den Grünanlagen des Towers und stampfte mit den Füßen, um die Kälte zu vertreiben. Eine Woche hatte es gedauert, bis die Ärztin sie angerufen und erklärt hatte, das Testergebnis sei jetzt da. In dieser Zeit war ihre Verzweiflung gewachsen, weil sie wusste, dass mit jedem blutleeren Tag die Zukunft, die sie sich erträumt hatte – erst ein Ehemann und dann ein paar Kinder –, unwahrscheinlicher wurde. Als Dr. Evangeline Moore schließlich öffnete, versuchte die Wirtin, ihr irgendetwas anzusehen, wurde aber mit einem Pokerface begrüßt. Schnell ging Ruby Dore ins Sprechzimmer durch und setzte sich. Die Ärztin nahm ihr gegenüber Platz und drehte einen Stift in den Händen herum. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte sie. »Es ist genauso, wie Sie gedacht haben. Sie sind schwanger.«
Ruby Dore schwieg.
»Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?«, fragte die Ärztin.
»Nicht gerade die allerbeste, wenn man die Umstände bedenkt«, antwortete die Wirtin und fummelte an den Enden ihres Schals herum.
Nach dem Arztbesuch ging sie ins Rack & Ruin zurück und verriegelte die Tür hinter sich. Sie stieg die schmale Holztreppe zu ihrer beengten Behausung mit den niedrigen Decken hoch. Die abgenutzten Möbel konnte sie aus finanziellen Gründen nicht ersetzen, und den Biergeruch nahm sie gar nicht erst wahr. Sie räumte ein paar Bücher zur Seite, setzte sich auf das einzige Sofa, das sie je gehabt hatte, und schloss die Augen. Sofort sah sie den Mann vor sich, dem sie, als sie ihren Vater in Spanien besucht hatte, in einer Bar begegnet war. Sie dachte an den Rioja, den sie getrunken hatten, und an die turbulenten Stunden am Strand, bevor sie dann in Begleitung der Morgendämmerung heimgekehrt war. Sie dachte an die Frau und das Kind, deren Hände der Mann gehalten hatte, als sie ihm am nächsten Tag über den Weg gelaufen war, und an seine Weigerung, sie auch nur zu grüßen. Und sie fragte sich, ob er seiner Familie ebenso viele Lügen auftischte wie ihr in der kurzen Zeit, in der sie ihn gekannt hatte.
Ihre Gedanken wanderten zu der demütigenden Aufgabe, ihren Eltern mitteilen zu müssen, dass sie schwanger war. Ihre Mutter würde natürlich ihren Vater dafür verantwortlich machen, wie sie es bei den meisten Dingen tat, obwohl sie sich schon vor zwei Jahrzehnten von ihm hatte scheiden lassen. Ihr Vater würde ebenfalls sich selbst die Schuld geben und ins Feld führen, sich nicht genug um seine Tochter gekümmert zu haben, nachdem ihre Mutter verschwunden war. Er hatte damals Wochen gebraucht, um Rose zu gestehen, dass ihre Mutter nicht mehr wiederkommen würde. Als die Neunjährige trotzdem wieder einmal gefragt hatte, wo ihre Mutter denn sei, hatte er geantwortet: »Deine Mutter ist in Indien und sucht sich selbst. Gott möge ihr beistehen, sollte sie fündig werden.«
Als sie die Augen wieder öffnete, fiel ihr Blick auf die Vitrine mit den Tower-Devotionalien, die von vielen Generationen Dores in Ausübung des Amtes des Schenkwirts gesammelt worden waren. Dem Mann in der Bar hatte sie davon erzählt, als er sie gefragt hatte, wo sie lebe, und er hatte sogar Interesse geheuchelt. Da war der Tower-Bericht von 1598, in dem die Beschwerde vorgebracht wurde, dass die Beefeater »der Trunkenheit, der Liederlichkeit und der Streitsucht frönten«. Auf dem Regalbrett darunter lag der Holzhammer, mit dem im Jahre 1671 Colonel Blood die Staatskrone plattgeklopft hatte, bevor er sie dann beim einzigen Versuch aller Zeiten, die Kronjuwelen zu stehlen, unter seinem Mantel hatte verschwinden lassen. Daneben lag ein Stück von dem Umhang, den Lord Nithsdale, als Frau verkleidet, während seiner Flucht 1716 getragen hatte.
Jedes Stück war unter die Lupe genommen und mit einem Etikett versehen worden, eine Arbeit, die sich Ruby Dore mit ihrem Vater geteilt hatte. Harry Dore hatte mit der verzaubernden Stimme des Barden die Geschichte der Gegenstände erzählt, während seine Tochter in ihrer schönsten Schulmädchenhandschrift die Etiketten entsprechend beschriftet hatte. Aber selbst diese gemeinsam verbrachten Stunden hatten den Schaden nicht wiedergutmachen können, den Ruby
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