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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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Schreibtisch und versuchte, mit abgewetzten Nüstern den Hörer vom Telefon zu stupsen. Hebe Jones meldete sich, und nach einer Weile sagte sie: »Der Besitzer ist gerade bei mir. Wir kommen sofort und holen es ab.«
    Sie nahm ihren türkisfarbenen Mantel vom Garderobenständer und rief: »Valerie, ich muss weg. Am Schalter steht ein Mann, der eine Niere verloren hat, und sie wurde soeben an der Edgware Road abgegeben. Ich begleite ihn, damit er das auch findet.«
    Das Pferd nickte.
    Als Hebe Jones das Büro verlassen hatte, setzte sich Valerie Jennings hin und schaute sich durch den Maschendraht hindurch im Büro um. Sie betrachtete die Kuckucksuhr und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis ihre Kollegin sie befreien würde. Gerade als sie noch einmal versuchen wollte, die Kühlschranktür zu öffnen, läutete die Schweizer Kuhglocke. Zunächst ignorierte sie es einfach, aber die Glocke läutete weiter, bis sie sich schließlich auf ihre behuften Füße erhob und mit der Widerwilligkeit eines Tiers, das man zum Schlachthof führt, in Richtung Schalter trottete.
    Als sie um die Ecke bog, stellte Arthur Catnip die Kuhglocke wortlos auf die Theke und schaute ihr in die Pferdeaugen.
    »Sind Sie Valerie Jennings?«, fragte er.
    »Das bin ich, in der Tat«, kam die gedämpfte Antwort.
    »Ich wollte nur wissen, ob Sie Lust hätten, irgendwann mit mir zu Mittag zu essen«, sagte er.
    »Sehr gerne.«
    Arthur Catnip zögerte. »Heute?«
    »Heute ist es ein bisschen eng.«
    »Wie wär’s mit Donnerstag?«
    »Donnerstag wäre wunderbar.«
    »Um eins?«
    »Ich werde Sie erwarten.«
    Arthur Catnip sah, wie das Pferd für einen Moment die Orientierung verlor, dann plötzlich schielte und schließlich hinter der Ecke verschwand.
    Hebe Jones schob eine herrenlose Zeitung beiseite und setzte sich, erleichtert, dass der Organkurier mit seinem Behältnis wieder vereint werden konnte. Als die U-Bahn aus der Station ratterte, sah sie auf und betrachtete die Personen in der Sitzreihe gegenüber. Vor allem ein Junge zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er muss so um die elf, zwölf Jahre alt sein, schätzte sie. Obwohl er keinerlei Ähnlichkeit mit Milo hatte, schmerzte der Anblick sie zutiefst. Die Mutter saß daneben und las in einer Zeitschrift. Hebe Jones bezweifelte, dass sie ihn derart ignorieren würde, wenn sie wüsste, wie schnell man ein Kind verlieren kann. Sie schloss die Augen und bedauerte wieder einmal, dass sie so viele Gelegenheiten verschenkt hatte, mit ihrem Sohn zusammen zu sein: wenn sie ihm gesagt hatte, er solle mit den anderen Kindern spielen gehen, damit sie selbst auf dem Dach des Salt Towers ihr Talent als Malerin erproben konnte; wenn sie und ihr Ehemann den Jungen bei Rev. Septimus Drew abgeliefert hatten, damit sie essen gehen konnten; wenn sie ihn aus der Küche geschickt hatte, weil schon wieder Plastiksoldaten in der Suppe schwammen.
    Der Junge stand auf und bot einer älteren Dame, die ihn schon die ganze Zeit erwartungsvoll angeschaut hatte, seinen Platz an. Das hätte Milo auch getan, dachte Hebe Jones. Sie betrachtete die Hand des Jungen, die sich an der Stange neben ihr festhielt, und plötzlich kam ihr in den Sinn, wann sie die Hand ihres Sohnes zum letzten Mal gesehen hatte: kalt, weiß und perfekt war sie gewesen, als er im Krankenhausbett gelegen hatte. Was für eine nachlässige Mutter sie wohl gewesen sein musste, dass sie nicht gemerkt hatte, was mit ihrem Sohn los war.
    Es hatte wesentlich länger gedauert, Mutter zu werden, als Hebe Jones es sich erhofft hatte. Als nach dem ersten Ehejahr immer noch kein Kind da war, hatte ihre Mutter ihr feierlich wie eine Reliquie eine kleine hölzerne Demeter-Statue überreicht. Hebe Jones hatte sie in die Handtasche gelegt und sie überallhin mitgenommen. Offenbar konnte aber nicht einmal die griechische Fruchtbarkeitsgöttin bewirken, dass irgendetwas in ihr heranwuchs. Und auch medizinische Tests konnten nicht herausbringen, warum dem Paar kein Nachwuchs beschert war. Ihre drei Schwestern hatten zu dieser Zeit schon so viele Kinder in die Welt gesetzt, dass die älteste ihren Gatten nachts aus dem Schlafzimmer verbannte, weil sie Angst hatte, noch einmal neun Monate lang nach Eiskrem zu gieren.
    Nach zwanzig Jahren monatlicher Enttäuschung blieb dann schließlich ihre Periode aus. In all dieser Zeit hatten sich Hebe und Balthazar Jones dagegen gewehrt, dass die Dornen der Unfruchtbarkeit ihre Ehe zerrissen, und die Wurzeln ihrer Liebe hatten

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