Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
Vom Netzwerk:
Hochzeitsfoto vom Kaminsims und brachte es zusammen mit dem Fotoalbum auf den Dachboden. Die Sachen auch nur anzufassen war schon schlimm genug.
    Als ein paar Minuten später abermals die Schweizer Kuhglocke läutete, stand Hebe Jones auf. Am Schalter wartete Arthur Catnip, ein Kontrolleur der Londoner Untergrundbahn von beschränkter Körpergröße, dessen Taille sich wegen seiner Vorliebe für gebratenen Frühstücksspeck sanft nach außen wölbte. Mit den Jahren hatte er gelernt, Schwarzfahrer auf hundert Schritt zu erkennen, und führte sein Talent auf dieselbe Intuition zurück, die ihm einst fünfzehn Tage, bevor es tatsächlich passiert war, einen schweren Herzinfarkt vorausgesagt hatte. Sofort hatte er seinen Jahresurlaub genommen und sich ins nächstbeste Krankenhaus eingeliefert, um dort der Katastrophe zu harren. Anders als beabsichtigt, war der tätowierte Fahrkartenkontrolleur allerdings in die psychiatrische Abteilung eingewiesen worden. Seine prophetischen Warnungen wurden von einem Arzt mit glänzender Glatze notiert, der vollkommen aus dem Häuschen war, weil er sich auf der Spur einer völlig neuen Unterart geistiger Verwirrung wähnte. Als der medizinische Notfall dann tatsächlich eintrat, überlebte Arthur Catnip aus einem einzigen Grund: Ein heißer Schwall der Genugtuung schoss just in diesem Moment durch seinen gesamten Körper, von den Füßen bis hinauf zu der verstopften Arterie, und durchstieß den Klumpen mit der Kraft eines wilden Hengstes. Im gesamten Flügel sprach sich herum, dass die Ärzte nichts als Rechthaber gewesen waren, und so kamen zwei Patienten, die gesünder waren als ihre Betreuer, zu dem Schluss, dass nach zusammengerechnet neunundvierzig Jahren nun endlich der Zeitpunkt gekommen sei, die Koffer zu packen und das Weite zu suchen.
    Über die Jahre hinweg hatten die Damen Arthur Catnip zahllose Tassen Tee angeboten, weil er stets bereitwillig ablieferte, was er fand. Viele seiner Kollegen kamen bei der Masse der vergessenen Gegenstände, die das Netz der Untergrundbahn verstopften, schlicht nicht hinterher, so dass sie die unverdächtigen Objekte ließen, wo sie waren, damit sie hoffentlich irgendwann gestohlen werden würden. Arthur Catnip dagegen brachte alles sofort ins Fundbüro. Nicht nur, weil die beiden Damen die einzigen Menschen in der gesamten Belegschaft waren, die ihm dafür dankten, die Londoner Untergrundbahn zu einer Bastion britischen Ruhms zu machen. Der Gedanke, die altmodische Einrichtung in der Baker Street aufzusuchen, ließ auch die Eingeweide des ehemaligen Seemanns rotieren, als wäre er wieder zurück auf einem seiner Schiffe. Vor einigen Monaten nämlich hatte er Valerie Jennings mit einem der Theaterbärte angetroffen und sofort an die wundersamen bärtigen Frauen denken müssen, die er auf seinen Reisen durch den Pazifik gesehen hatte. Speerbewehrte alte Männer hatten sie gegen Zirkusleute mit gigantischen Netzen verteidigt. Die unbestreitbare Zauberkraft der Frauen hatte ihnen in ihren Dörfern den größten Respekt eingebracht, und so wurden sie als Göttinnen verehrt und bekamen stets die größten Schildkröteneier. Mit dem goldgelben Eigelb brachten sie ihre Bärte zum Glänzen, und mit dem Eiweiß ölten sie sich das üppige Fleisch ein, das ihren Körper in verführerischen Massen bedeckte.
    Arthur Catnip hatte sich geschworen, den Frauen nie wieder zu vertrauen, nachdem seine elfjährige Ehe infolge der zufälligen Entdeckung gescheitert war, dass seine Ehefrau eine Affäre mit dem Konteradmiral hatte. Er kehrte der Armee freiwillig den Rücken, bevor er entlassen werden konnte, weil er dem Mann den Kiefer gebrochen hatte. Da es ihn nicht ans Tageslicht zog, bewarb er sich für eine Stelle bei der Londoner Untergrundbahn. Nun aber weckte der spektakuläre Anblick von Valerie Jennings eine solche Sehnsucht in ihm, dass er stets in einer Wolke von Eau de Toilette zur Arbeit erschien. Da er sie nie wieder mit einer derart üppigen Gesichtsbehaarung erblickte, sagte er sich schließlich, dass die wundersame Erscheinung eine Illusion gewesen sein müsse. Der Geist seiner Vision verfolgte ihn aber trotzdem, wenn er durch die viktorianischen Tunnel ratterte und nach Schwarzfahrern Ausschau hielt.
    Der Fahrkartenkontrolleur, dessen Hände nach dem jahrelangen Herumfuhrwerken mit Tauen nie wieder ihre ursprüngliche Zartheit wiedergewonnen hatten, legte eine Kamelie, ein Paar Handschellen, sechzehn Regenschirme, dreizehn Handys und fünf

Weitere Kostenlose Bücher