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Der Name Der Dunkelheit

Titel: Der Name Der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Scholten
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MONTAG 24. DEZEMBER WEIHNACHTSABEND

1
    Die schmalen Augen von Suunaat Kjærgaard waren für diese blendende Dunkelheit geschaffen. Als die Sonne um halb drei unterging, hatte sie zufällig am Fenster gestanden und bemerkt, wie sich am nördlichen Horizont ein heller Streifen abzeichnete. Für Suunaat Kjærgaard, die an der Westküste Grönlands geboren und von dort zu einer lebenslangen Reise aufgebrochen war, hatte nicht der geringste Zweifel daran bestanden, dass der nahende Schnee wild war.
    Sie blinzelte und klopfte sich das glitzernde Pulver von der Brust. Endlich hatte der Anblick grauer Sträucher ein Ende. Wochenlang hatte die Landschaft vor Kälte gestarrt und auf den Schnee gewartet wie eine leere Bühne auf den ersten Auftritt.
    Böen griffen von allen Seiten an und brachten ihren Körper ins Wanken. Der Einbruch des Winters war wie ein Besuch aus der Heimat. Der Wind jaulte in ihrer Muttersprache.
     
    Sie stapfte los. Der Schnee reichte ihr bis zu den Knien, war wegen des Windes jedoch nicht überall gleich tief. Sie kannte das Strandbad vom Sommer und wusste, dass die Badewiese dreißig Schritte weit in sanften Stufen abfiel und kurz vor dem Ufer in Sand überging. Suunaat verlangsamte ihre Schritte. Die Wasserlinie war nur noch ein gefährlich unklarer Schimmer. Sie hörte bereits das Schwappen, sah jedoch die Bäume nicht, die vereinzelt am Wasser standen. Zwei Schritte weiter zeichneten
sich die schwarzen Stämme ab. Aber die Stämme trogen. Sie ragten krumm über das Wasser hinaus, das dazwischen kleine Buchten ausgespült hatte.
    Suunaat schlug eine andere Richtung ein und bewegte sich entlang des unsichtbaren Wassers. Der Wind schlug ihr entgegen. Vor jedem Schritt prüfte sie den Untergrund mit der Fußspitze, deshalb bemerkte sie den Mast mit dem Rettungsring erst, als sie mit dem Kopf dagegenstieß. Das Signalrot war so verblasst, dass die gesamte Vorrichtung im Gestöber unsichtbar wurde. Nebel verhüllte den Fjord. Von Kungsholmen am anderen Ufer erkannte sie nur die drei Hochhäuser von Marieberg. Sie funkelten wie Kristalle.
    Suunaat erreichte die Stelle. Zuerst erkannte sie die blauen Streifen des Sonnenschirms. Er widerstand den Böen mit erstaunlichem Starrsinn. Der Saum des Stoffs flatterte im Wind. Obwohl die Stange tief im Boden steckte, drohte der Schirm durch die Last des Schnees zur Seite zu kippen.
    Der Liegestuhl darunter war aus massivem Holz, die Lehne aufgestellt. Suunaat musste sich unter den Schirm ducken und hinknien, um das Gesicht der Frau betrachten zu können. Unter dem Schutz des Schirms lag ein so feiner Schleier aus Schnee auf ihren Wangen und der Stirn, dass Suunaat glaubte, einzelne Kristalle erkennen zu können. Obwohl die Lider geschlossen waren, wollte sie der Frau nicht den Blick auf den Fjord versperren und kroch auf den Knien zur Seite. Sie stellte die Tasche in den Schnee und streifte sich ihre Fäustlinge ab. Als erste Maßnahme öffnete Suunaat den Mund der Frau, legte Zeige- und Mittelfinger auf die Zunge und versuchte, die Körpertemperatur zu schätzen. Irritiert zog sie ihre Finger bald wieder heraus. Sie hatte dort einen Anflug von Wärme erwartet.
    Suunaat wechselte von der linken auf die rechte Seite des Stuhls, um den Wind im Rücken zu haben. Die Scheinwerfer
des Polizeiwagens oben am Beginn der Wiese waren als diffuser Kreis zu sehen. Eigentlich sollten sie die Stelle markieren und ausleuchten.
    Suunaat öffnete ihre Tasche. Der Schnee war trocken und ließ sich mit dem Notizbuch vom Körper der Frau wedeln. In dieser Lage konnte sie nur eines tun. Sie griff nach dem Stechthermometer und stieß es der Frau in den Bauch. In dreißig Sekunden würde es piepsen.
    Für eine Rechtsmedizinerin war die Weihnachtszeit eine erfüllte Zeit. Da Suunaat völlig vereinsamt lebte, hatte sie den Weihnachtsabend und die Feiertage in der Abgeschiedenheit des rechtsmedizinischen Instituts verbringen wollen. Mit Menschen sprach sie meist erst nach deren Tod. Wenn man bedachte, dass die Stockholmer in jedem Winkel ihres Lebens recht zu haben glaubten, dann sahen sie nach ihrem letzten Atemzug erstaunlich nachdenklich aus.
    Während die Sekunden der Messung verstrichen, glaubte Suunaat in der unmittelbar neben ihr beginnenden Ferne ein Harmonium zu hören, aber da es auf Långholmen weit und breit keine bewohnten Häuser gab, schrieb sie den Klang einer Schiffssirene zu.
    Sie fror nicht. Der Speck, der sie sonst vor der Kälte des Lebens schützte, schützte sie

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