Der verborgene Charme der Schildkröte
einzelne Socken auf die Theke, und Hebe Jones trug alles mit kryptisch verschlüsselten Querverweisen in verschiedene Register ein. Als sie das letzte Buch schloss und es ins Regal stellen wollte, hob Arthur Catnip eine schlichte blaue Tasche vom Boden auf und stellte sie auf die Theke. »Die hätte ich fast vergessen.«
Hebe Jones, die noch genauso neugierig war wie zu Beginn ihrer Arbeit, öffnete den Reißverschluss, stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute hinein. Da der Inhalt immer noch nicht zu erkennen war, steckte sie die Hand in die Tasche und zog eine Plastikdose mit den Resten eines fischigen Sandwiches heraus. Sie fühlte noch einen anderen Gegenstand und beförderte eine Holzkiste ans Tageslicht. Auf einer Messingplakette stand: ›Clementine Perkins, 1939–2008, RIP‹. Keiner sagte ein Wort, als sie entsetzt auf die Urne starrten.
Nachdem sich Arthur Catnip mit der Frage, wie man denn die sterblichen Überreste eines Menschen vergessen könne, verabschiedet hatte, trug Hebe Jones die Urne ins Register ein. Ihre Hand zitterte derartig, dass ihre Schrift mit der eines Mönchs nichts mehr gemein hatte. Zurück an ihrem Schreibtisch, stellte sie die Urne wortlos auf das Tagebuch des Gigolos. Ihre Gedanken waren schon längst nicht mehr bei der Holzkiste mit der Messingplakette. Mit einem einzigen scharfen Schnitt waren sie zu der kleinen Urne gewandert, die hinten im Kleiderschrank im Salt Tower stand.
Als Hebe Jones den Anruf des Bestattungsunternehmens bekommen hatte, dass Milos sterbliche Überreste zur Abholung bereitstünden, hatte sie die Vase mit den Blumen fallen gelassen, die kurz zuvor von Rev. Septimus Drew eingetroffen waren. Balthazar Jones sammelte die Scherben vom Wohnzimmerteppich auf und nahm den Autoschlüssel vom Haken an der Wand. Die Fahrt legten sie in atemlosem Schweigen zurück. Balthazar Jones hörte nicht Phil Collins’ In the Air Tonight und tat auch nicht so, als würde er Schlagzeug spielen, wenn sie im Verkehr feststeckten, und es saß auch niemand auf dem Rücksitz, der an den schönsten Stellen einstimmen würde. Erst bei der Ankunft machte das Ehepaar den Mund wieder auf, aber mehr als ihren Namen bekamen sie nicht heraus. Die Dame am Empfang schaute sie erwartungsvoll an, um den Anlass ihres Kommens zu erfahren, doch erst als der Bestatter dazukam, konnte die unangenehme Situation beendet werden. Schnell wurde es allerdings wieder prekär, weil der Mann ihnen die Urne in die Hand drücken wollte und keiner es ertragen hätte, sie entgegenzunehmen.
Bei der Rückkehr in den Salt Tower wurden sie vom schweren Geruch der weißen Lilien auf der Wendeltreppe eingenebelt. Hebe Jones, die auf dem Beifahrersitz gesessen und die Urne in einem Zustand einsamer Erstarrung umklammert hatte, stellte sie neben Milos Kazoo auf den Wohnzimmertisch und ging in die Küche, um drei Tassen Tee zu kochen. Die dritte Tasse stand verlassen auf dem Tablett, während das Ehepaar in drückendem Schweigen auf dem Sofa saß und jeden Blick auf das Ding mied, das sie beide den Tod herbeisehnen ließ. Einige Tage später bemerkte Hebe Jones, dass ihr Ehemann es auf den Kaminsims gestellt hatte. In der Woche darauf konnte sie den Anblick nicht mehr ertragen und stellte es, bis man einen endgültigen Aufbewahrungsort finden würde, in den Kleiderschrank. Jedes Mal allerdings, wenn einer von ihnen das Thema ansprach, erwischte es den anderen auf dem falschen Fuß, und er sah sich, von Schmerz übermannt, nicht zu einer Antwort in der Lage. So blieb die Urne hinter Hebe Jones’ Pullovern stehen. Und jeden Abend, bevor sie die Nachttischlampe ausschaltete, fand die Mutter eine Ausrede, um leise die Schranktür öffnen und ihrem Kind gute Nacht sagen zu können, denn auf das Ritual, an das sie sich in elf Jahren gewöhnt hatte, konnte sie nicht verzichten.
KAPITEL VIER
Aus Gründen, die er für ziemlich überzeugend hielt, beschloss Balthazar Jones, seiner Ehefrau nichts von dem Besuch des persönlichen Dieners Ihrer Majestät mit dem prächtigen Regenschirm zu erzählen. Als daher einige Tage später Hebe Jones zu höllisch früher Stunde, um 3.13 plötzlich kerzengerade im Bett saß und sich erkundigte: »Was wollte eigentlich der Mann vom Palast von dir?«, murmelte der Beefeater mit dem Tonfall dessen, der noch tief in seinen Träumen versunken ist, dass es irgendetwas mit der Kanalisation zu tun gehabt habe. Sofort bedauerte er seine Antwort. Hebe Jones behielt ihre aufrechte Position für
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