Der verborgene Charme der Schildkröte
goldenen Buchstaben ER auf der Brust übergezogen und die Halskrause hineingesteckt hatte, erblickte er im Spiegel die Überreste eines Mannes, der sein Leben dem Dienst am Vaterland gewidmet hatte. Nichts war mehr übrig vom gewellten Haar, von dem seine Ehefrau – eine eher mit Ehrgeiz als mit Talent gesegnete Hobbymalerin – einst gesagt hatte, es entspreche dem Farbton von Mumienbraun, einem Pigment, das man aus den staubigen Relikten alter Ägypter gewann. Mit den Jahren waren die reichen, erdigen Wellen sanften, grauen Rippeln gewichen, die dann urplötzlich weiß geworden waren. Und seine ehemals glattrasierten Wangen verschwanden nun unter einem Bart von derselben Farbe, den er sich als Isolierung gegen die verfluchte Feuchtigkeit hatte wachsen lassen.
Er setzte sich auf die Bettkante und befestigte seitlich an seinen Knien und an seinen schwarzen Lackschuhen rot-weiß-blaue Rosetten. Dann stieg er über Mrs. Cook hinweg und ging ins Bad, wo die Kälte so schneidend war, dass der Kampf gegen die einsamen Leiden der Verstopfung nach einer Wollmütze verlangte. Als er sich dann mit dem Überschwang, der für eine königliche Verabredung geboten war, die Zähne putzte, betete er, dass bei der Verbeugung nicht die Knöpfe an seiner Kniebundhose abspringen würden.
Über die Water Lane ging er in Richtung Middle Tower, dessen Anblick die Touristen regelmäßig in Verzückung versetzte, und erzählte niemandem von den Kollegen, die er unterwegs traf, wo er in seinem Aufzug hinwollte. Vor der Festung hielt er ein Taxi an, weil er mit der Halskrause aus irischem Leinen nicht selber fahren konnte. Er setzte sich auf die Rückbank, schloss die Tür und beugte sich zur Scheibe vor. »Buckingham Palace, bitte«, sagte er und zog die Jacke über seine geschmückten Knie.
Rev. Septimus Drew kehrte zurück von seinem Morgenspaziergang durch den grasbewachsenen Burggraben, in dem schon seit 1845 kein brackiges Wasser mehr stand. Unterwegs hatte er darüber nachgedacht, dass er den Tower-Kindern beim nächsten Mal in der Sonntagsschule beibringen sollte, warum in der Bibel zwar Einhörner, aber keine Ratten vorkamen. Kurz vor der Rückkehr in den Tower hatte er Balthazar Jones in Galaaufzug in ein Taxi steigen sehen und hatte es wieder einmal bedauert, dass ihre Freundschaft zerbrochen war.
Es hatte Zeiten gegeben, in welchen der Beefeater regelmäßig an seinem Tisch zu Gast gewesen war und sie sich gemeinsam an einem fetten Wildvogel und einer Flasche Château Musar gütlich getan hatten. Andere Abende hatten sie zusammen im Rack & Ruin verbracht und hatten, während sie verschiedene Real Ales getestet hatten, Geschichten über das mysteriöse Loch in der Schenkentür erfunden. Wenn das Wetter es erlaubte, hatte man sie auf der Bowlinganlage des Towers angetroffen, wo sie stets an ihrem unausgesprochenen Gentlemen’s Agreement festgehalten hatten, die Schummeleien des anderen großzügig zu übersehen. Der Kaplan konnte damit leben, dass der Beefeater als ehemaliger Soldat dazu bereit war, für sein Vaterland zu töten, während Balthazar Jones die unergründliche religiöse Bindung seines Freunds hinnahm.
Ihre wechselseitige Wertschätzung war so groß gewesen, dass sogar Milo seine anfängliche Angst vor dem Kaplan, den das elffingrige Trommeln aus dem Grab von Anne Boleyn in den Wahnsinn getrieben haben soll, überwunden hatte. Wenn der Junge zu ihm in die Kapelle gekommen war, hatten sie sich auf die Bank davor gesetzt, und der Geistliche hatte ihm Geschichten über den Tower erzählt, die in keinem Führer standen. Und als der Junge eines Nachmittags in Little Ease – der winzigen Gefängniszelle, in der kein erwachsener Mann aufrecht stehen kann – entdeckt worden war, hatte er nicht verraten, wer ihm von dem geheimen Ort erzählt hatte.
Seit dem Tod des Jungen hatte der Beefeater allerdings nur eine einzige Einladung zum Abendessen angenommen, und seine Bowlingschuhe waren unten im Kleiderschrank geblieben. Und obwohl der Geistliche alles versucht hatte, ihn zu einem Drink im Rack & Ruin zu überreden, war Balthazar Jones immer alleine dorthin gegangen und hatte die Einsamkeit der Gesellschaft vorgezogen.
Zurück in seinem Haus an den Grünanlagen des Towers, ließ sich der Kaplan ein Bad ein, in dem er aber wegen der schrecklich kalten Raumtemperatur nicht lange liegen bleiben konnte. Er wählte eine Unterhose, die ihm für das, was er zu tun beabsichtigte, die nötige Würde verleihen würde, und
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