Der verborgene Charme der Schildkröte
verschoben, die allerdings ebenso verlässlich versagte.
Zurück an ihrem Schreibtisch nahm Valerie Jennings ein Buch aus ihrer schwarzen Handtasche und stellte es an seinen Platz im Bücherregal. Jedes Buch, das sie sich auslieh, brachte sie am nächsten Tag wieder zurück, für den Fall, dass sich der Besitzer melden sollte. Abends steckte sie es erneut in die Tasche, und wenn sie es sich dann in ihrem Lehnstuhl mit der ausklappbaren Fußstütze bequem gemacht hatte, verschlang sie Seite um Seite und ließ sich von den schweren Schwaden der Fantasie benebeln.
Als sie die Schweizer Kuhglocke hörte, wischte sie sich eine lose Strähne aus dem Gesicht, setzte die Brille auf und eilte in Richtung Schalter. Auf dem Weg dorthin versuchte sie, den Safe zu öffnen, wie es im Büro so Sitte war, aber er blieb so verschlossen wie an dem Tag vor fünf Jahren, als er auf der Circle Line gefunden worden war.
Sie bog um die Ecke und sah Arthur Catnip, der fast zur Gänze hinter einem Strauß gelber Rosen verschwand. Das war nun schon der zweite Blumenstrauß, den er ihr kaufte. Als der Schalter beim ersten Mal geschlossen gewesen war, hatte ihn der Mut sofort wieder verlassen, und er war auf die Straße geflüchtet. Die Blumen hatte er der erstbesten Frau hingehalten, die ihm über den Weg gelaufen war, aber wie die anderen elf Frauen nach ihr hatte sie das Geschenk in der weit verbreiteten Überzeugung abgelehnt, dass sich hinter sämtlichen Londoner Mitmenschen potentielle Irre verbargen.
Blumen waren nicht das Einzige, was der Fahrkartenkontrolleur von beschränkter Körpergröße für Valerie Jennings kaufte. Aus der Art und Weise, wie sie bei jedem abgelieferten Roman sofort den Text auf der Rückseite las, hatte er auf ihre Schwäche für Literatur geschlossen, und so durchstöberte er die Antiquariate der Hauptstadt auf der Suche nach etwas, das ihr Freude bereiten könnte. Bestsellertaschenbücher ließ er links liegen und stieß schließlich auf das Werk einer sonderbaren Schriftstellerin aus dem neunzehnten Jahrhundert namens Miss E. Clutterbuck. Als er die Seiten überflog, stellte er fest, dass die Protagonistin sämtlicher Romane zu einer gewissen Körperfülle neigte, über einen beängstigend scharfen Verstand verfügte und außerdem etliche Verehrer verschiedenster Körpergrößen hatte. Keine Geschichte endete, ohne dass die Heldin ein Land entdeckt oder eine wissenschaftliche Theorie erfunden oder ein äußerst kniffliges Verbrechen aufgeklärt hätte. Erst dann zog sie sich mit einer Schüssel Rhabarber und Vanillesoße in ihr Wohnzimmer zurück und dachte, umgeben von Liebesbeweisen in Form gelber Rosen, über ihre zahlreichen Heiratsanträge nach. Arthur Catnip kaufte sämtliche Bände, die er auftreiben konnte, erschien mit jedem muffigen, leinengebundenen Neuerwerb am Schalter und behauptete, ihn soeben in einem U-Bahn-Waggon gefunden zu haben. Angesichts einer neuen Folge leuchtete Valerie Jennings ’ Gesicht sofort auf, und in ungezügelter Vorfreude betrachtete sie die Farbtafeln, auf denen die beleibte Heldin in einem neu entdeckten Land eine Schlange erwürgte, einem ehrwürdigen Gentleman im Parlament ihre jüngste Erfindung vorstellte oder in Begleitung eines eleganten schnauzbärtigen Bewunderers, von denen viele ihr an Körpergröße nicht gleichkamen, eine Straße entlangschritt.
Als Arthur Catnip sich Valerie Jennings nun plötzlich gegenübersah, die Blumen der Verehrer aus den Romanen von Miss E. Clutterbuck in der Hand, blieb ihm die Sprache weg.
»Wie wunderschön«, sagte sie und betrachtete den Strauß. »Die müssen für jemanden ganz Besonderes gewesen sein. Wo wurden sie vergessen?«
Panik packte ihn, und schon hatte Arthur Catnip die vier Worte gesagt, die er in den folgenden Wochen noch oft verfluchen würde.
»In der Victoria Line.«
Rev. Septimus Drew ging über das Pflaster zurück, nachdem er wieder einmal vergeblich in der Kapelle auf die Frau gewartet hatte, die seine Gefühle in Aufruhr versetzte. Gelegentlich schaute er sich um, weil er sie doch noch irgendwo zu entdecken hoffte, aber das Einzige, was er sah, waren die ersten verhassten Touristen, die in den Tower eindrangen. Als er in der Tasche seiner Soutane nach seinem Schlüssel suchte, merkte er, dass die Touristen doch nicht die ersten waren, denn da saß schon jemand auf der Bank vor dem White Tower und starrte zu ihm herüber. Die Knie zusammengepresst und das kurze, bleigraue Haar im Wind zu Berge stehend,
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