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Der verborgene Charme der Schildkröte

Titel: Der verborgene Charme der Schildkröte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Stuart
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rattus eingerichtet hatte. Es war schon ein paar Wochen her, dass er an dem Tisch mit der Gelenklampe gesessen und bis in die frühen Morgenstunden an einer neuen Erfindung gearbeitet hatte, um dem Leben, das sich von seinen gepolsterten Kniebänken nährte, ein schnelles und unwiederbringliches Ende zu bereiten. Dieser Wandel hatte nichts damit zu tun, dass sich die Menge der schnurrbärtigen Wesen verringert hätte – die hinterließen immer noch schamlos ihren Dreck in der Kapelle –, sondern einzig mit dem Respekt vor Ruby Dores unfassbarer Zuneigung zu diesen Plagegeistern.
    Während er die bleichen Wasserlilien goss, die wegen mangelnder Fürsorge allmählich den Geist aufgaben, dachte er wieder an die plötzliche Kälte der Wirtin. Nach den Stunden, die sie nach der Jagd auf die zahmen Wanderratten im Rack & Ruin verbracht hatten, war er in absoluter Hochstimmung heimgekehrt. Nicht der Champagner hatte ihn in diesen begnadeten Zustand versetzt, obwohl der Jahrgang sicher ein ganz außerordentlicher gewesen war, sondern die Überzeugung, dass Ruby Dore zweifellos die wunderbarste Frau war, die er je getroffen hatte. Als sie alleine in der Schenke gesessen hatten – der Kanarienvogel hatte längst den Kopf unter den Flügel gesteckt –, war sie mit einer überaus faszinierenden Geschichte über das Herz von Thomas Hardy herausgerückt, die er trotz seiner lebenslangen Leidenschaft für die Westminster Abbey noch nie gehört hatte. Die Wirtin schenkte ihm ein weiteres Glas ein und erzählte ihm, dass der Dichter in seinem Testament verfügt habe, in seiner Heimat in Wessex beerdigt zu werden. Nach seinem Tod im Jahre 1928 beschloss die Regierung jedoch, dass dieses nationale Kulturgut neben den anderen berühmten Dichtern in der Abtei begraben werden müsse. Ein unwürdiger Streit brach aus, worauf schließlich Hardys Herz entnommen wurde, um es seiner Frau zur Bestattung in Stinsford zu überlassen. Der Rest des Körpers wurde verbrannt und feierlich in der Abtei zu Grabe getragen. Die Legende wollte es allerdings, dass man das Herz in eine Keksdose gelegt und im Gartenschuppen abgestellt hatte, wo es dann von Cobweb, der Hauskatze, gefunden und aufgefressen wurde. Als er die Grausamkeit entdeckte, drehte der Bestatter Cobweb sofort den Hals um und legte den Kadaver in den Sarg. Nach Beendigung der Geschichte hatte sich der Kaplan nur mühsam beherrschen können und sich darauf beschränkt, die weiche, blasse Hand der Wirtin zu nehmen und sie in größter Bewunderung zu küssen.
    Trotz der trauten Zweisamkeit in jenen frühen Morgenstunden, in denen nichts als die klebrige Theke zwischen ihnen gestanden hatte, war Ruby Dore am nächsten Tag so distanziert gewesen, als wären sie praktisch Fremde. Und egal, wann er in die Schenke kam, er wurde seither stets als Letzter bedient, eine gewaltige Beleidigung für einen Engländer. Wenn die Beefeater sich dann entfernten, um sich einen Tisch zu suchen, und er weiterhin an der Theke herumlungerte, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, griff sie entweder zu ihrem Strickzeug oder verschwand, um ein Fass auszutauschen.
    Er beobachtete, wie die Erde durstig das Wasser aufsog, und fragte sich zum soundsovielten Mal, womit er sie beleidigt haben könnte, aber ihm fiel partout nichts ein. Die Ungewissheit nagte an ihm, deshalb stieg er die ausgetretenen Holzstufen hinunter, stellte die Gießkanne wieder in den Schrank unter der Spüle und schob den Vorhang beiseite. Wie befürchtet, saß die Vorsitzende der Richard-III.-Rehabilitierungsgesellschaft auf der Bank vor dem White Tower, die Knie zusammengepresst und die bleigrauen Haare im Wind zu Berge stehend. Trotzdem nahm der Geistliche seinen Schlüssel und verließ das Haus.
    Bis zum Bloody Tower hatte er es bereits geschafft, als ihm plötzlich jemand auf die Schulter klopfte. Er drehte sich um, aber bevor die Frau etwas sagen konnte, hatte er schon die Hand gehoben und erklärt, dass ihn nichts und niemand von den Verdiensten des buckligen Kindermörders überzeugen könne. »Sollten Sie einen Richard-III.-Apologeten suchen, versuchen Sie es beim Yeoman Gaoler. Er ist überzeugt davon, dass der Herzog von Buckingham die beiden Prinzen ermordet hat. Er wohnt da drüben«, fügte er hinzu und zeigte auf die Nummer sieben an den Grünanlagen des Towers.
    Als er zur Schenke weiterging, klopfte ihm wieder jemand auf die Schulter. In der Annahme, dass er die Vorsitzende immer noch nicht abgewimmelt hatte, schoss er herum, um

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