Der verborgene Charme der Schildkröte
wählte ein Buch, kehrte an ihren Schreibtisch zurück und steckte es in ihre Handtasche. Als sie sich setzte, klingelte das Telefon. »Fundbüro der Londoner Untergrundbahn. Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie mit der Stimme einer Radiosprecherin aus den Dreißigerjahren.
Eine Stimme mit einem starken Akzent fragte, ob sie Valerie Jennings sei.
»Das bin ich, in der Tat.«
Der Pfarrer der dänischen Gemeinde erklärte, dass es ein bisschen Arbeit bedeutet habe, es ihm jedoch gelungen sei, einen Niels Reinking ausfindig zu machen. »Ich weiß nicht, ob es der Mann ist, den Sie suchen, aber ich habe seine Adresse. Vielleicht können Sie ihm ja schreiben«, fügte er hinzu.
»Das ist eine gute Idee«, antwortete sie. »Ich finde es jammerschade, dass die Kunst des Briefeschreibens nicht länger wertgeschätzt wird. Wie lautet die Adresse?«
Valerie Jennings hatte keinerlei Absicht, ihre Zeit damit zu verschwenden, sich der Willkür der Königlichen Post anzuvertrauen. Sobald sie den Hörer aufgelegt hatte, griff sie zum Stadtplan und nahm dann ihren dunkelblauen Mantel von dem Ständer neben der aufblasbaren Puppe.
Weniger als eine Stunde später stand sie vor einem edwardianischen Haus, das sich anmutig in den Himmel erhob. Rechts und links von der Eingangstür stand je ein Lorbeerbusch. Sie drückte auf den Klingelknopf und schaute durch das Erkerfenster hinein, während sie wartete. Ein Mann mit blauen Augen und einer Frisur wie Schneetreiben öffnete.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er und wischte sich die Finger an einem farbenbekleckerten Lappen ab.
»Sind Sie Niels Reinking?«, fragte sie.
»Ja.«
»Ich bin Valerie Jennings vom Fundbüro der Londoner Untergrundbahn. Könnte es sein, dass Sie etwas verloren haben?«
Niels Reinking stützte die Hände in die Hüften. »Ich verliere ständig etwas. Für gewöhnlich meine Brille, von der meine Frau dann behauptet, ich hätte sie doch auf den Kopf geschoben. Sie haben nicht zufällig mein Scheckbuch gefunden?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Eigentlich ist es etwas größer als ein Scheckbuch. Es handelt sich um einen Safe.«
Er schaute sie eine Weile an und fand keine Worte. »Vermutlich ist es besser, Sie kommen herein«, sagte er schließlich.
Valerie Jennings saß auf dem Ledersofa im Atelier und betrachtete die eigentümlichen Bilder an den Wänden, während Niels Reinking in der Küche verschwand. Mit einer Kanne frischem Kaffee kehrte er zurück und goss ihn mit zitternden Händen ein, dann setzte er sich in den Sessel der Couchgarnitur. Vor einigen Jahren, erklärte er, sei in sein Haus eingebrochen worden, und die Diebe hätten sich mit dem Safe auf und davon gemacht. Natürlich hätte er ihn, wie es in der Gebrauchsanweisung verlangt wurde, an der Wand festschrauben sollen, aber das hatte er nie geschafft. Er hatte der Polizei den Einbruch gemeldet, seither jedoch nichts mehr von ihr gehört. Die Hoffnung, den Safe jemals zurückzubekommen, hatte er längst aufgegeben. »Und Sie wollen jetzt behaupten, Sie hätten ihn gefunden?«, fragte er.
Valerie Jennings schob ihre Brille hoch. »Vor ein paar Jahren wurde in der U-Bahn ein Safe zurückgelassen, aber wir haben ihn erst jetzt öffnen können«, sagte sie. »Um sicherzugehen, dass es sich tatsächlich um den Ihren handelt, muss ich Sie allerdings fragen, was darin war.«
Niels Reinking schaute auf den cremefarbenen Teppich hinab. »Nun, das ist schon eine Weile her«, sagte er. »Vermutlich waren ein paar Papiere aus meiner Zeit bei der Schifffahrtsgesellschaft darin. Ich hatte mich schon gefragt, wo sie abgeblieben sind. Außerdem enthielt er ein wenig Bargeld, das meine Frau ihren Weglauffonds zu nennen beliebte. Kein Wunder, dass sie noch bei mir ist. Das ist aber alles nicht so wichtig. Mir wäre es nur wichtig zu erfahren, ob sich ein Manuskript in dem Safe befand.«
»Etwas in der Art war tatsächlich dabei«, antwortete Valerie Jennings.
Der Kuss, der auf ihrer Wange landete, verwirrte sie in einem Maße, dass der Kaffee, den sie in der Hand hielt, in die Untertasse schwappte. Niels Reinking zog sich wieder in seinen Sessel zurück und erzählte ihr nun die Geschichte des Manuskripts, das für sein Heimatland eine solche Bedeutung hatte, dass er es nicht einmal hatte versichern lassen können. Im siebzehnten Jahrhundert hatte das schwindende Glück der Dänen nach dem Dreißigjährigen Krieg einen seiner Vorfahren namens Theodor Reinking derart aufgebracht, dass er ein
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