Der verbotene Fluss
Geräusche behagten ihr nicht, und die Vorstellung, die Nacht in diesem Haus zu verbringen, erschien ihr plötzlich nicht mehr so verlockend. Sie konnte entweder leise nach oben gehen, heimlich ihre Tasche holen und sich aus dem Haus schleichen – aber wohin? – oder leise nach draußen gehen und versuchen, einen Blick durchs Fenster zu werfen, um zu klären, was hier vor sich ging. Vielleicht wäre sie danach beruhigt. Die letzte Möglichkeit entsprach am ehesten ihrem Naturell. Also kehrte sie zur Haustür zurück, wobei sie kaum zu atmen wagte, schlüpfte hinaus, lehnte die Tür an und schob sich an der Hauswand entlang, um einen vorsichtigen Blick durchs Fenster zu wagen. Die Vorhänge waren geschlossen, doch sie entdeckte einen Spalt zwischen Vorhang und Mauer, durch den sie einen Teil des Raumes einsehen konnte.
Das Wohnzimmer war ähnlich dunkel eingerichtet wie das übrige Haus. Die linke Hälfte war verdeckt, doch an einem kleinen Tisch bemerkte sie Mrs. Ingram, die mit dem Rücken zu ihr saß, und eine weitere Dame. Der Raum wurde lediglich von drei weißen Kerzen erhellt, die auf dem Tisch brannten. Beide Frauen hatten einen Finger auf ein umgedrehtes Glas gelegt, das zwischen ihnen auf dem Tisch stand. Die ihr unbekannte Frau hatte die Augen geschlossen und bewegte den Mund.
Eine spiritistische Sitzung! Charlotte hatte davon gehört, eine derartige Veranstaltung aber noch nie miterlebt. In Berlin schie nen sie nicht sonderlich verbreitet zu sein, schon gar nicht bei ihren letzten Arbeitgebern, die sehr sachlich und materialistisch ge wesen waren. Fasziniert und belustigt schaute sie durch den Spalt, konnte aber nicht erkennen, ob sich das Glas auf dem Tisch bewegte. Als Schritte auf der Straße erklangen, glitt Charlotte ins Haus zurück und zog die Tür hinter sich zu. Sie atmete tief durch und begab sich rasch in ihr Zimmer, wo sie vorsichtshalber die Tür abschloss.
Dann tastete sie sich im Dunkeln zu der Petroleumlampe, die sie vorhin auf dem Tisch gesehen hatte, und zündete sie mit den bereitliegenden Zündhölzern an. Anschließend zog sie die Jacke aus, stellte die Tasche auf einen Stuhl und streifte ihre Stiefel ab. Trotz der langen Reise war sie jedoch zu aufgewühlt, um sich schon schlafen zu legen.
Sie setzte sich aufs Bett und dachte an die seltsame Sitzung, die sich in der unteren Etage abspielte. Mrs. Ingram hatte recht bodenständig gewirkt, daher war es umso verwunderlicher, dass sie eine solche Veranstaltung in ihrem Haus abhielt. Oder war es hier in England ein gewöhnlicher Zeitvertreib wie Handarbeiten oder Kartenspielen?
Dann kam ihr ein Gedanke. Im Flur unten hatte sie die Fotografie eines stattlichen Herrn mit grauem Vollbart bemerkt. Der Rahmen war mit einem Trauerflor geschmückt. Vielleicht versuchte die Witwe, auf diese Weise Kontakt zu ihrem verstorbenen Mann aufzunehmen. Der Gedanke milderte Charlottes Verwunderung, wenngleich ihr die Vorstellung, dass sich Mrs. Ingram mit Hilfe eines Glases bemühte, in diesem Haus einen Geist heraufzubeschwören, einen leisen Schauer über den Rücken jagte. So amüsant ihr der Anblick vorhin erschienen war, wirkte die Vorstellung nun, da sie allein in ihrem Zimmer in diesem fremden Haus saß, ein wenig beunruhigend.
Sie schüttelte sich, als wollte sie die irrationale Furcht abstreifen, und holte den Brief hervor, den Sir Andrew Clayworth ihr geschickt hatte.
CHALK HILL, JULI 1890
Sehr geehrte Miss Pauly,
es freut mich, dass wir zu einer Übereinkunft gelangt sind und Sie die Position der Gouvernante bei meiner Tochter Emily übernehmen werden. Nachdem Sie bereits in Ihrer Korrespondenz mit meinem Sekretär die grundlegenden Fragen erörtert und diesbezügliche Vereinbarungen getroffen haben, sehe ich Ihrer Ankunft mit Freude entgegen. Damit Sie Ihre Stelle nicht gänzlich unvorbereitet antreten, möchte ich Sie kurz auf Ihre Begegnung mit meiner Tochter Emily vorbereiten.
Emily hat in diesem Monat ihren achten Geburtstag gefeiert. Sie ist ein liebes und folgsames Mädchen, das allen, die sie kennen, nur Freude bereitet. Sie liebt es zu zeichnen und kleine Bastelarbeiten anzufertigen. Auch zeigt sie ein gewisses musikalisches Talent und spielt seit geraumer Zeit Klavier. Leider entsprachen ihre bisherigen Lehrerinnen nicht meinen Erwartungen, weshalb ich Ihre ausgezeichneten Referenzen in dieser Hinsicht zu schätzen weiß. Handarbeiten gehören nicht zu Emilys bevorzugten Beschäftigungen, wenngleich ich hoffe, dass sich
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