Vollmeisen
Ich wartete, bis es richtig dunkel war, und erst dann schob ich mich verstohlen durch das Gartentor und ging auf das Haus zu, in dem ich die ersten neunzehn Jahre meines Lebens verbracht hatte. Gott, war das peinlich, mit neunundzwanzig Jahren wieder zurück zu den Eltern zu ziehen. An der Tür stand mein Vater und schaute nicht gerade so, als wollte er gleich ein Schaf schlachten, aber vielleicht machte man so etwas auch nur für heimkehrende Söhne. Ich warf mich statt in seine offenen vor seine verschränkten Arme und schluchzte: »O Papa, es ist so schrecklich. Wie konnte mir so was nur passieren?«
Doch Papa hielt mit seinem Mitleid noch etwas hinter dem Berg, er seufzte nur resigniert: »Alice. Komm rein, Mama ist in der Küche.«
Auch meine Mutter wirkte nicht ganz so erfreut, wie sie eigentlich sollte. »Ich habe dir das doch gleich gesagt, dass auf diesen Mann kein Verlass ist. Allein diese Schuhe! Welcher vernünftige Mensch läuft schon in solchen Cowboystiefeln durch die Gegend? So einer ist kein Mann zum Heiraten.«
Na ja. Ich glaubte eher nicht, dass es an seinen Stiefeln lag. Aber woran es sonst lag, dass es mit uns nicht funktioniert hatte, wusste ich auch nicht. Die letzten drei Jahre hatte ich mit Simon zusammengelebt. Ich liebte Simon (meistens jedenfalls), und ich liebte das Leben mit ihm (immer). Simon gehörte ein Erotik-Versand, den er In Lack und Leder machtâs Spaà mit jeder genannt hatte. Da musste etwas dran sein, denn die Geschäfte liefen richtig gut. Mehr als fünfzehn Mitarbeiter kümmerten sich um alles, was irgendwie mit Lack und Leder zu tun hatte, und ich war eine davon. Wir lebten in Simons durchgestylter Altbauwohnung im angesagtesten Viertel der Stadt, und mir ging es richtig gut. Das änderte sich allerdings vor zwei Wochen, als Simon mir fast beiläufig mitteilte, dass er die Jahre mit mir sehr genossen habe, unsere gemeinsame Zeit nun allerdings vorbei wäre. Ich möge doch bitte meine Sachen packen und seine Wohnung verlassen. Die anschlieÃende Auseinandersetzung war kurz, schmerzhaft und brachte mir leider nicht viel, auÃer einem Aufschub von zwei Wochen. Er sagte, er wäre ja kein Schwein, ich müsste nicht jetzt sofort gehen.
Und plötzlich saà ich nicht nur ohne Mann da, sondern auch noch ohne Job. Ach ja, das hätte ich fast vergessen â und ohne Wohnung. Simon brach schon am nächsten Tag zu einem Urlaub auf, vermutlich mit meiner Nachfolgerin, und ich hatte zwei Wochen Zeit, mir eine neue Unterkunft zu suchen. Gar nicht so einfach. Versuchen Sie mal, in einer GroÃstadt eine günstige Wohnung zu finden, wenn Sie auf dem Bewerbungsbogen der Makler »zurzeit arbeitssuchend« ankreuzen müssen. Ich war nicht gerade die begehrteste zukünftige Mieterin, so viel war klar. Und auch geldmäÃig sah es bei mir nicht gerade rosig aus.
Ich hatte zwar gar nicht schlecht verdient, aber andererseits waren die Läden auch voller Klamotten, die mir immer zuriefen »Nimm mich, nimm mich.« AuÃerdem bin ich immer eine Frau gewesen, der ihr Aussehen sehr wichtig war. Also wanderte viel von meinem Gehalt zum Friseur (honigblond ist nicht billig!), zur Kosmetikerin, zum Nagelstudio und dergleichen mehr. Trotz dieser vernünftigen Einstellung zu meinem äuÃeren Ich hatte ich dennoch stets vor, Sparguthaben und Wert- oder Pfandbriefe oder wie so was heiÃt, anzuhäufen. Aber es ist nicht meine Schuld, dass es nie dazu kam. Wirklich nicht! Ich meine, was ist denn das für eine Geschäftspolitik der Banken, ihre Filialen alle in Einkaufszentren zu setzen? Da geht man als rechtschaffener Bürger mit den besten Absichten und fünfhundert Euro in der Tasche Richtung Bank, und was liegt auf dem Weg dahin? Schuhläden, Boutiquen und eine supergroÃe Douglas -Filiale. Ja, warum sagen die Banken denn nicht gleich ehrlich, was sie wirklich denken, nämlich â wir wollen euer Geld gar nicht, wir haben nämlich selbst ganz viel eigenes. Ist mir ein Rätsel, warum die so scheinheilig sind und auch noch für teures Geld werben.
Wie auch immer, ich hatte eingesehen, dass es so kurzfristig wohl nichts mit einer neuen Wohnung werden würde und kleinlaut meine Eltern angerufen, um sie über die baldige Familienzusammenführung zu informieren.
Und nun war ich also wieder im Schoà der Familie angekommen. Nach einer Kurzfassung meiner misslichen Lage und einigen
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