Der verbotene Turm
du mich belogen?« Ihre eigene Stimme klang ihr wie ein Schrei in den Ohren. »Warum hast du mich in Fesseln geschlagen, die ich nicht zerreißen konnte, so daß es ein Hohn war, als du mich in die Ehe gabst? Mißgönnst du mir Glück, die du kein eigenes kennst?«
Leonie zuckte zusammen. Ihre Stimme bebte vor Schmerz. »Ich hatte gehofft, du seiest glücklich und bereits Frau, Chiya .«
»Du weißt, was du getan hast, um das unmöglich zu machen! Kannst du schwören, daß du mich nicht zum Neutrum gemacht hast, wie es in den alten Zeiten mit der Lady von Arilinn geschah?«
Leonies Gesicht verzog sich vor Entsetzen. »Die Götter sind Zeugen, Kind, und die heiligen Dinge zu Hali, du bist nicht zum Neutrum gemacht worden. Aber, Callista, du warst sehr jung, als du in den Turm kamst …«
Die Zeit schien zurückzufließen, während Leonie sprach, und Callista wurde zu einem halb vergessenen Tag mitgerissen. Ihr Haar lockte sich noch um ihre Wangen, statt wie das einer Frau eingeflochten zu sein. Sie empfand von neuem die ängstliche Ehrfurcht, die sie für Leonie gehabt hatte, bevor diese ihr Mutter, Führerin, Lehrerin, Priesterin geworden war …
»Du hattest als Bewahrerin Erfolg, während sechs andere versagten, mein Kind. Ich dachte, du seiest stolz darauf gewesen.«
»Das war ich.« Callista senkte den Kopf.
»Aber du hast mich in die Irre geführt, Callista, oder ich hätte dich nie gehen lassen. Du machtest mich glauben – obwohl ich es kaum für möglich hielt –, daß du bereits auf deinen Liebhaber reagiertest, daß, wenn du noch nicht bei ihm gelegen hattest, es nur noch kurze Zeit dauern würde. Und deshalb dachte ich, vielleicht sei es mir nicht richtig gelungen, vielleicht sei dein Erfolg als Bewahrerin nur darauf zurückzuführen, daß du glaubtest , von den Dingen, die andere Frauen quälen, frei zu sein. Dann, als die Liebe in dein Leben trat und du feststelltest, wohin dein Herz dich zog, wie es schon so vielen Bewahrerinnen geschehen ist, war es dir nicht möglich, länger unerweckt zu bleiben. Deshalb segnete ich dich und gab dir deinen Eid zurück. Aber wenn das nicht wahr ist, Callista, wenn das nicht wahr ist …«
Callista fiel ein, wie Damon sie ärgerlich verspottet hatte: Willst du dein Leben damit verbringen, Löcher in Leintüchern zu zählen und Gewürze für Kräuterbrot herzustellen, du, die du Callista von Arilinn gewesen bist? Leonie hörte das Echo in ihren Gedanken ebenfalls.
»Ich habe es dir schon einmal gesagt, mein Liebling, und jetzt biete ich es dir wieder an. Du kannst zu uns zurückkehren. Eine kurze Zeit, ein bißchen Neuschulung, und du wärst wieder eine von uns.«
Sie machte eine Handbewegung, die Luft wellte sich, und Callista war in das Scharlachrot einer Bewahrerin gekleidet, rituelle Ornamente an Stirn und Hals.
»Komm zurück zu uns, Callista. Komm zurück.«
Sie stammelte: »Mein Gatte …«
Leonie wischte das als nichts hinweg. »Eine Freipartner-Heirat ist nichts, Callista. Sie ist bis zum Vollzug der Ehe nur eine juristische Fiktion ohne Bedeutung. Was bindet dich an diesen Mann?«
Callista wollte sagen: »Liebe«, und brachte unter Leonies verächtlichen Augen das Wort nicht heraus. Sie sagte: »Ein Versprechen, Leonie.«
»Uns hast du dein Versprechen früher gegeben. Du bist für diese Arbeit geboren, Callista, es ist deine Bestimmung. Erinnerst du dich, daß du dem, was mit dir geschah, zustimmtest? Du warst eine von sieben, die in jenem Jahr zu uns kamen. Sechs junge Frauen versagten, eine nach der anderen. Sie waren bereits erwachsen, ihre Nervenkanäle reif. Die Säuberung der Kanäle und die Konditionierung gegen eine sexuelle Reaktion war zu schmerzhaft für sie. Und dann war da Hilary Castamir, weißt du noch? Sie wurde Bewahrerin, aber jeden Monat, wenn sie ihre Periode hatte, fiel sie in Krämpfe, und der Preis schien zu hoch zu sein. Ich war verzweifelt, Callista, weißt du noch? Ich leistete die Arbeit von drei Bewahrerinnen, und meine eigene Gesundheit begann zu leiden. Und aus diesem Grund erklärte ich es dir, und du stimmtest zu …«
»Wie konnte ich zustimmen?« rief Callista verzweifelt. »Ich war ein Kind! Ich wußte nicht einmal, was das war, wonach du fragtest!«
»Trotzdem stimmtest du zu, konditioniert zu werden, solange du noch nicht voll ausgewachsen warst und die Kanäle noch unreif waren. Und deshalb fiel es dir leicht.«
»Ich erinnere mich«, sagte Callista sehr leise. Sie war so stolz gewesen, daß sie Erfolg
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